„Das beschissene Wort “NEIN” kam aus diesem kleinen Mund nicht heraus.”
Der Feind in der Familie
Inhaltswarnung für Leser*innen:
Dieser Artikel kann Themen enthalten, die als diskriminierend und verletzend empfunden werden könnten. Der Text beschäftigt sich mit folgenden sensiblen Inhalten: Kindesmissbrauch und Vergewaltigung. Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.
„Seid ihr bereit?”, fragt uns Conny erwartungsvoll und setzt sich neben uns, bevor sie gedanklich in das Jahr 1978 schweift.
Damals ist Conny gerade zwölf Jahre alt. Gemeinsam mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter macht sie sich auf den Weg zur Verwandtschaft nach Österreich. Die Vorfreude steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Sie lernen ein neues Familienmitglied kennen – den Cousin ihrer Mutter. Er wirkt sehr aufgeschlossen, zuvorkommend und selbstbewusst. „Wir haben uns immer einen richtigen Papi gewünscht, der mit uns spielt und lacht. In Wirklichkeit sah aber alles anders aus“, merkt Conny rückblickend an. Denn, wie sehr man sich in einem Menschen täuschen kann, bekommt die damals 12-Jährige kurz darauf wortwörtlich am eigenen Leibe zu spüren. Knapp 40 Jahre später sitzen wir gemeinsam mit Conny in ihrer Küche und sie erzählt uns, dass alles genau so kam, wie es kommen musste. „Dieser Mensch, mit dem wir so viel gelacht haben, zeigte eines Nachts sein wahres Gesicht. Und wen hat er sich letztendlich ausgesucht? Mich – die schüchterne, ängstliche Conny, so wie mich alle nennen.“ Das stetige Ticken der Uhr im Raum löst keine Unruhe in uns aus, nein, ganz im Gegenteil, es unterstreicht die Gelassenheit, die Conny mittlerweile ausstrahlt. Damals schien die Uhr allerdings für einen kurzen Moment stehen zu bleiben. „Dieser Mensch” – so wie sie ihn nennt, legte sich neben sie und begann sie anzufassen. Conny bemerkte es sofort und wollte lauft aufschreien – Nein, nein, nein!
Sie erschrak vor sich selbst, erstarrte und ließ es letztendlich über sich ergehen. Während der Wasserkocher im Hintergrund zu brodeln beginnt, wartet Conny einen Moment und atmet auf, bevor sie wieder spricht. „Meine Schüchternheit hat mich schon immer verfolgt, als wäre das etwas sehr Schlechtes auf dieser Welt”, seufzt sie. Es blieb nicht nur bei dem einen Vorfall, es wurde auch Gewalt ausgeübt und sie wurde bedroht. Nachdenklich reibt Conny ihre Hände. „Dieser Mensch hatte sogar Freunde mit den gleichen Trieben wie er. Er brachte mich zu ihnen und als es dann Nacht wurde, vergriffen sie sich ebenfalls an mir und es wurden Videofilme davon gedreht.” Der Wasserkocher in der Küche ertönt, wird immer lauter und das Wasser scheint regelrecht zu toben. Er schaltet sich aus, und es scheint, als würde eine Last von Conny abfallen, als sie von diesem Ereignis erzählt. „Dieser ganze sexuelle Missbrauch dauerte zwei Jahre, aber nicht volle Jahre, sondern immer nur einen Sommer lang”, entgegnet Conny.
Sexuelle Gewalt in Deutschland
Laut Bundeskriminalamt waren im vergangenen Jahr durchschnittlich 40 Kinder sexueller Gewalt ausgesetzt. Und das pro Tag. In 90 Prozent der Fälle stammt der Täter aus dem sozialen, nicht selten aus dem familiären Umfeld. Diese Zahlen sind allerdings nur eine grobe Orientierung, denn wissenschaftlich geprüfte Fakten über sexuellen Missbrauch zu ermitteln, ist nahezu unmöglich, da zahlreiche Missbrauchserfahrungen nie an die Öffentlichkeit gelangen. In Connys Fall hat der Schritt, sich jemandem zu öffnen, ganze drei Jahre gedauert. Sie nahm daraufhin ihren Mut zusammen und schüttete ihr Herz vor Gericht aus.
„Ich hatte endlich alles gesagt, was mich bis zu diesem Zeitpunkt mehrere Jahre verfolgt hat."
Conny nimmt eine Akte zur Hand: ihre Gerichtsakte. Viele markierte Seiten stechen aus der Akte hervor. Beim Durchblättern fällt ihr Blick auf ein Zitat: „Es ist ja auch nicht auszuschließen, dass es zu flüchtigen Berührungen kam, die von dem Mädchen in Folge ihrer angeregten Fantasie in diesem Bereich ausgedehnt, und so verstärkt wurden, sodass sie schließlich selbst der Überzeugung war, dass der Erstangeklagte zielgerichtete, unzüchtige Handlungen bei ihr durchgeführt hätte.” Auch heute werden Erzählungen von Kindern und Jugendlichen noch ins Reich der Fantasie verbannt. Der Täter wurde somit freigesprochen und der Spieß wurde umgedreht: „dieser Mensch” war nun das Opfer. Conny greift zu ihrer Tasse und die Geschwindigkeit ihrer Stimme verlangsamt sich. Verachtende Unterstellungen wie „dir hat es doch Spaß gemacht, sonst hättest du dir das nicht so lange gefallen lassen” blieben noch lange an ihr haften: „Ich stieß überall auf der Welt auf taube Ohren”, erzählt uns Conny aufgebracht. Trotz den Beschuldigungen war sie zu dieser Zeit in gewisser Hinsicht aber auch erleichtert und glücklich. „Ich dachte, ich hätte alles verarbeitet und könnte nun in Frieden leben. Aber falsch gedacht.”
Folgen eines sexuellen Missbrauchs
Conny erzählt uns trübsinnig, wie sie im Alltag immer mehr an ihre Grenzen gelangte: „Ich fühlte mich innerlich schmutzig, aber nach außen hin musste alles sauber sein und glänzen.” Was mit einem Putzfimmel begann, ging über zu einem geschwächten Immunsystem, missglückten Beziehungen und führte letztendlich zur kompletten Isolierung und zu Depressionen. „Es gab nur schwarz oder weiß für mich. Dazwischen gibt es auch etwas, aber das kannte ich nicht”, sagt sie mit einer ernsten Stimme. Ihre Lasten übermannten sie.
„Es fühlte sich an wie Jesus mit seinem Kreuz auf dem Rücken.”
Ein gescheiterter Selbstmordversuch war für Conny das nötige Alarmsignal, um Maßnahmen zu ergreifen. Es gab nur noch einen Weg zur Besserung: einen Psychologen aufzusuchen. „Mit der Tiefenpsychologie war ich dran, mich innerlich aufzuräumen”, erinnert sich Conny zurück. Träume, die dort hervorgerufen wurden, zeigten ihr, dass sie mit der Therapie auf dem richtigen Weg war. Die zunächst unüberwindbar erscheinenden Blockaden in ihrem Leben begannen sich zu lösen.
Ein Traum zeigte ihr besonders, dass sie ab diesem Zeitpunkt bereit war, sich ihrer Vergangenheit auch innerseelisch zu stellen.
Therapieeinheiten gehören seither zu Connys Leben. Conny läuft zur Garderobe und nimmt sich ihren Mantel. Sie hat heute einen Termin bei Jessica Heller, ihrer Kunsttherapeutin. Die Kunsttherapie bietet ihr die Möglichkeit, Gefühle, für die Worte nicht ausreichen, zum Ausdruck zu bringen. Conny betritt den Therapieraum, in dem bunte Stifte, Ölkreide und ein Mäppchen bereit liegen. Bevor sie ihrer Fantasie freien Lauf lässt, betrachten und analysieren wir ihre vorherigen Werke.
Heller meint, dass ein weiteres Trauma auf ein bereits vorhandenes Trauma folgen kann, wenn die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage gestellt wird. Dies war bei Conny der Fall.
„Ein Trauma ist ein Verlust, bei dem man die normalen Trauerphasen hat. Erst die Leugnung, dann die Wutphase und letztendlich der Hass.”
Ihr ganzes Leben lang ist sie an Fachleute geraten, die ihre Lage nicht ernst genommen haben. Heller schaut tief in Connys braune Augen und erklärt: „Das ist wie bei einem Arzt, der dem Patienten bei Schmerzen Ibuprofen verschreibt. Anstatt der Ursache auf den Grund zu gehen. Das ist einfacher für ihn!” Conny beginnt, ihr Mandala des Lebens zu zeichnen und versucht so, weiterhin die Tiefe ihrer inneren Wahrheit zu verkörpern.
Ob man für dieses Thema jemals bereit sein wird, das wissen wir nicht. Allerdings sind wir uns sicher, dass weiterhin offen und ehrlich darüber geredet werden muss!
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