Leben mit MS

Die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern

24. Juni 2020

Nadine leidet an Multipler Sklerose (MS), einer lebenslangen Erkrankung des Zentralen Nervensystems. Trotzdem ist sie glücklich und lebt ihr Leben. Nadine geht feiern, fährt Motorrad und spielt Fußball. Ein Portrait über eine junge starke Frau, die sich in den Alltag zurückgekämpft hat.

Nadine öffnet mir die Tür mit einem strahlenden Lächeln. Sie trägt einen bequemen, schlichten Jogging-Zweiteiler, ihre Haare sind zu zwei lockeren Zöpfen geflochten und sie ist ungeschminkt. Im Ohr trägt sie einige Piercings. Wir machen es uns draußen im Garten auf zwei Stühlen bequem, Nadine nimmt beide Beine hoch und fängt an zu erzählen. Sie macht während des gesamten Interviews, das wie ein lockeres Gespräch verläuft, einen gefassten Eindruck. Ihre Augen füllen sich nicht mit Tränen, ihre Stimme bleibt ruhig und bricht nicht weg. Sie spricht offen über ihre Krankheit, die man ihr äußerlich nicht ansieht.

Nadine ist 21 Jahre alt und seit rund einem Jahr an Multipler Sklerose erkrankt.

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Quellen: www.amsel.de/multiple-sklerose/; www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/was-ist-ms/#c903 | Quelle: Eigene Darstellung: Ina Grosser

Die Diagnose

Nadine hat Grippe, sie fühlt sich nicht gut. Ihr Hausarzt schreibt sie für eine Woche krank, danach geht sie wieder ganz normal arbeiten. Nadine macht zu dieser Zeit eine Ausbildung zur Arzthelferin in Stuttgart. Sie fühlt sich immer noch krank. Plötzlich fängt ihr rechter Daumen an zu kribbeln. „Ich dachte, meine Hand schläft einfach nur ein.“ Zwei Tage später kribbeln die Finger, noch einen Tag später die ganze Hand. Ihre Finger fangen an zu zittern. Nadine hat keine Kontrolle mehr. „Ich war in der Arbeit und meine Hand ist steif geworden. Ich konnte sie nicht mehr bewegen.“ Nadine sucht Hilfe in mehreren Krankenhäusern, doch keines nimmt ihre Symptome ernst. „Sie haben mich einfach wieder heimgeschickt.“ Die Magnetresonanztomographie (MRT), ein Verfahren, das mit Magnetfeldern und Radiowellen Schnittbilder von Nadines Körper macht, gibt endlich Auskunft. Die Diagnose steht fest. Als Nadine erfährt, dass sie an Multipler Sklerose erkrankt ist, muss sie weinen. „Ich habe mich gefragt, warum ich? Warum jetzt auf einmal?“ Ihr Papa nimmt sie in den Arm und drückt sie ganz fest.

In den Alltag zurückgekämpft

Nadine bekommt Kortison, damit die Lähmungserscheinungen wieder verschwinden. Das schlägt bei den meisten MS-Patienten an. Nadine spürt aber keine Besserung. „In der Zeit war ich echt verzweifelt.“ Die einzige Möglichkeit, die noch bleibt, ist eine Blutwäsche. Nadines Blut wird gereinigt und das Gefühl in ihrer Hand kommt langsam zurück. „Nach der sechsten Blutwäsche konnte ich meine Hand wieder komplett bewegen, sie war wieder ein Teil von mir.“ Der Weg zurück in den Alltag ist nicht einfach. Sie muss wieder schreiben lernen, macht Gymnastik und geht jeden Tag spazieren.

„Ich glaube, es gibt gar keine andere Wahl. Ich wollte es unbedingt schaffen – wenn dir etwas fehlt, das du für selbstverständlich gehalten hast, merkst du erst, wie wichtig es dir ist.“

Nadine

In der Reha findet Nadine wieder zu sich und lernt ihre Krankheit besser kennen. Ihr wird klar, dass sie nie den Mut verlieren darf, dass ihr Leben weitergeht und dass sie nicht allein ist. Sie merkt, wie wichtig ihre Gesundheit ist und hört mit dem Rauchen auf. Die Tests in der Reha zeigen, dass Nadine nur sechs Stunden am Tag leistungsfähig ist. Sie leidet an chronischer Müdigkeit (Fatigue). In der Schule ist Nadine ständig erschöpft und denkt, sie selbst ist daran Schuld. „Durch das Ergebnis habe ich durchatmen können. Es liegt nicht an mir, es ist die Krankheit, die ich vielleicht schon länger in mir trage, die aber bis vor einem Jahr nicht ausgebrochen ist.“ Nadines Hand ist wieder fast normal, dort hat sich nach der Diagnose nicht mehr viel geändert. „An den Fingerspitzen merke ich, dass es mit Wärme und Kälte anders ist. Ich habe nicht mehr so das Empfinden.“

Der Krankheitsverlauf von Multipler Sklerose ist von Patient zu Patient unterschiedlich – deshalb ist sie auch als „die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern“ bekannt. Am häufigsten ist der schubförmige Verlauf. Hierbei setzen die Symptome plötzlich ein und können bis zu mehreren Wochen andauern. Der nächste Schub kann bereits nach einigen Wochen oder aber erst nach Jahren auftreten. Über ihre Zukunft macht sich Nadine nicht zu viele Gedanken. „Klar, das Schlimmste wäre für mich, wenn ich irgendwann im Rollstuhl lande. Aber diese Angst ist nicht präsent in meinem Kopf, ich könnte es eh nicht aufhalten.“

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Quelle: www.dmsg.de/ms-erklaerfilme/ | Quelle: Eigene Darstellung: Ina Grosser

Nadine ist eine lebensfrohe junge Frau, die gelernt hat, das Beste aus ihrer Krankheit zu machen. Sie fährt weiterhin Motorrad, geht arbeiten, spielt Fußball und trifft sich mit ihren Freunden. „Motorrad fahren ist für mich ein befreiendes Gefühl, sogar besser als Fußball spielen. Es ist das Beste, was es gibt.“ Nadine hat schon immer ihr Ding durchgezogen, egal was andere sagen und daran wird sich auch nichts ändern. Ihre Familie und Freunde unterstützen sie sehr und dafür ist sie dankbar. Zum Schluss verrät sie mir: „Ich bin glücklich, weil ich weiß, dass das im Hier und Jetzt zählt und dass ich da bin, um jetzt zu leben. Das ist das Einzige, was mir Sinn gibt. Und man sollte nicht zu sehr über alles nachdenken, das machen wir Frauen eh schon.“ Wir müssen beide laut loslachen.

Nadine verbringt jede freie Minute auf ihrem Motorrad.
In der Reha lernt Nadine wieder schreiben.