Das Egal-Barometer
Rückblick: Ich pushe mit der Drogeriemarkt-Wimperntusche jedes einzelne Härchen an sein Limit. Viel hilft viel, auch wenn das Endergebnis aussieht wie verklebte Fliegenbeine. Ich trage dieselben Ugg-Boots wie meine Mitschülerin Michelle. Sie ist die Coolste in der 10b. Nach der Schule rauchen wir heimlich an der Bushaltestelle. Jeder weiß, dass an der Bushaltestelle heimlich geraucht wird. Es ist Winter, aber die Jacke bleibt offen. Mit verschlossenem Reißverschluss sieht sie nämlich bescheuert aus. Wir machen Duckface-Spiegelselfies in der Umkleidekabine der Sporthalle. Wir sind nicht nur verdammt cool, sondern auch voll erwachsen!
Ist das noch cool oder kann das weg?
Wenn ich mir heute, acht Jahre später, diese Bilder anschaue, muss ich lachen. Cringe, wie man so schön sagt. All die Dinge, die mir damals so wichtig waren: Sowas von banal. Ich stelle fest, wie sehr sich mein „Egal-Barometer“ verändert hat. Gedanken, die früher meinen Tag einnahmen, sind heute schon beim zweiten Klick auf Snooze vergessen. Und Dinge, die einem so ziemlich schnuppe waren, werden plötzlich wichtiger. Es ist nicht mehr cool, am Wochenende in die Stadt zu fahren und so viel Klamotten zu shoppen, dass die Griffe der Primark-Papiertüte reißen. Oder die Zigarettenfilter gedankenlos auf den Boden zu schnipsen und keine Sekunde daran zu verschwenden, dass sie sich ja wohl nicht irgendwann in Luft auflösen.
Und dann, inmitten von Fliegenbeinen, Duckfaceselfies und absoluter Ahnungslosigkeit vom Leben, kommt der Tag. Zwölf Schläge auf der Kirchenturmuhr, kaum hörbar zwischen Pitbull-Songs und Asti-trinkenden Heranwachsenden. Zack, ist man erwachsen. Einfach so.
Kastrierte Bullen und Ameisen-Handschuhe
In anderen Kulturen läuft die Initiation, also die Einführung ins Erwachsenenlaben, anders ab: In Äthiopien etwa, springen junge Männer der Hamar traditionell vier Mal über einen kastrierten Bullen. Auf Vanuatu, einer kleinen Insel im Südpazifik, stürzen sich die Heranwachsenden wie beim Bungee-Jumping, mit einer Liane am Fuß von einem Turm, so knapp, dass ihre Haare bestenfalls den Boden berühren, und im brasilianischen Amazonasgebiet feiern die Jungen des Sateré-Mawé Stammes ihren Eintritt ins Erwachsenenalter, indem sie zehn Minuten lang einen Handschuh gefüllt mit Riesenameisen tragen müssen.
Ohne Scheiß. Ich würde echt ungern tauschen. Aber für all diejenigen, die diese Rituale überstanden haben, steht zumindest eines fest: Sie sind jetzt erwachsen.
Erwachsenen-Erkenntnisse
Obwohl ich immer noch auf meine Prüfung, meinen „Krass, jetzt bin ich erwachsen“-Moment warte, stelle ich fest, dass es doch hin und wieder bin. Spätestens, wenn ich volle Primark-Tüten und Zigarettenstummel sehe, drückt sich mein "Egal-Barometer" unangenehm zusammen. Vielleicht hat das was mit Verantwortung zu tun. Verantwortung für sich selbst, für die Umwelt, für Mitmenschen. Vielleicht ist es die Erkenntnis, dass man nicht immer alles gemacht haben muss, dass Ugg-Boots, auch wenn sie die coolste Person der Welt trägt, einfach schrecklich aussehen. Die Erkenntnis, dass im Winter der Reißverschluss der Jacke verdammt nochmal zugemacht wird. Und zwar bis unters Kinn.
Das ist der erste Teil dieser Kolumne. Den zweiten Teil "Tiefgekühlte Windbeutel" findest du hier.