„Wenn ich viel unterwegs bin, passiert es locker zweimal in der Woche.“
Wenn der Nachhauseweg zum Spießrutenlauf wird
Schnelle Schritte auf dem Asphalt. Es ist dunkel. Enya Boban ist auf dem Heimweg. Eben hat sie noch gut gelaunt zu Beats von Chris Brown getanzt, jetzt hastet sie in Richtung Bahnhof. Dort hat sie ihr Fahrrad abgestellt. Ein Mann kommt ihr entgegen. Ohne aufzusehen, eilt Enya an ihm vorbei. Ein ungutes Gefühl macht sich in ihr breit. Flüchtig wirft sie einen Blick nach hinten. Aus dem Augenwinkel sieht sie, dass der Mann stehengeblieben ist. Einige Sekunden steht er regungslos da, dann macht er kehrt und folgt der 19-Jährigen. Gedanken schießen ihr durch den Kopf: „Hat er etwas vergessen? Was will er von mir?“ Die junge Frau läuft schneller, biegt in eine andere Straße ein, schlägt Haken wie ein Hase, doch ihr Verfolger lässt nicht von ihr ab. Legt sie an Tempo zu, zieht er nach. Ihr Herz rast. „Was, wenn er noch näher kommt? Wie soll ich reagieren? Kann ich irgendwo Schutz suchen?“. Noch immer hört sie seine Schritte beunruhigend nah. Erst nachdem sie ein kurzes Stück gerannt ist, lässt der Fremde von ihr ab.
Als sie sich zu Hause erschöpft auf ihr Bett fallen lässt, ist die Gefahr zwar gebannt, doch die Anspannung bleibt.
Kein Einzelfall
Mehr als die Hälfte der in Deutschland lebenden Frauen hat bereits mindestens einmal sexuelle Belästigung erfahren. Das geht aus einer Erhebung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) hervor. Besonders junge Frauen zwischen 16 und 24 Jahren sind betroffen. Die Studie zeigt außerdem, dass sich im Verlauf der Befragung doch mehr Frauen betroffen fühlten als zu Beginn angegeben. Vielen Frauen sei gar nicht bewusst, wo sexuelle Belästigung eigentlich anfängt, vermuten die Forscher*innen. Enya Boban unterstreicht dieses Gefühl: „Ich glaube, jede*r hat seine persönlichen Grenzen und kann für sich definieren, ab wann diese übertreten werden.“ Sie persönlich setze diese bereits beim sogenannten „Catcalling“ – sexuell bestimmten Bemerkungen, Lauten oder Gesten, wie dem klassischen Hinterherpfeifen. „Wenn ich viel unterwegs bin, passiert es locker zweimal in der Woche, dass ich ungewollt angemacht oder verfolgt werde“, erzählt Enya. Es sei eben Alltag.
Sexuelle Belästigung hat viele Gesichter
Prinzipiell wird zwischen drei Arten von sexueller Belästigung unterschieden: verbaler, nonverbaler und körperlicher Belästigung. „Hey Süße, geiler Arsch!“, verheißungsvolle Blicke zu den Kumpels, ein „anerkennendes“ Pfeifen oder scheinbar versehentliches Streifen. Die häufigsten Fälle von sexueller Belästigung in der Öffentlichkeit werden von unbekannten Personen verübt und sind nicht körperlich. Die körperliche Belästigung ist allerdings die einzige, die in Deutschland laut Gesetz als Belästigung geahndet wird. Und das auch nur, wenn belegt werden kann, dass etwaige Berührungen vorsätzlich waren (siehe §184 i StGB). Verbale Belästigung wird bislang vereinzelt als Beleidigung oder Nötigung verfolgt. Diese Fälle ziehen allenfalls eine Geldstrafe nach sich.
Aktivist*innen sehen eine Gesetzeslücke und fordern in einer Petition ein Gesetz, das auch Catcalling ahndet. Die Petition fand große Unterstützung. Knapp 70.000 Menschen haben sie unterzeichnet. Derzeit liegen die Forderungen dem Bundesjustizministerium vor und werden geprüft. In einigen europäischen Nachbarländern wie Belgien, den Niederlanden und Portugal ist Catcalling bereits gesetzlich verboten. Wer in Frankreich anzügliche Bemerkungen macht, muss mit einer Strafe von bis zu 750 Euro rechnen.
Nadine Berneis ist Polizistin beim Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg und hat selbst schon oft sexuelle Belästigung erfahren. Die ehemalige Miss Germany 2019 leitet eine Kampagne zur Prävention sexueller Belästigung im Alltag. „Wir alle kennen das und oft ist es unangenehm und eklig“, beschreibt sie. Dennoch gibt es Gründe, wieso Catcalling in Deutschland noch nicht strafbar ist. In den meisten Fällen, sei die Beweislage nicht ausreichend, erklärt Nadine Berneis. Außerdem sei die Zahl der statistisch erfassten Belästigungen in Baden-Württemberg rückläufig. Man geht allerdings von einer hohen Dunkelziffer aus, da nur ein Bruchteil der Vergehen zur Anzeige gebracht wird.
„Solange ich höflich bin, haben die keinen Grund auszurasten und dann bin ich ein bisschen in Sicherheit.“
Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht
Viele Frauen haben eigene Strategien, um kein Opfer sexueller Belästigung oder gar Gewalt zu werden. Enya erzählt, ihre Kleiderwahl falle oft auf große Pullover, da diese nicht so feminin seien. Freundinnen von ihr trügen vereinzelt auch Pfefferspray oder kleine Messer mit sich, um sich im Notfall verteidigen zu können. Doch wie sollte man sich verhalten, wenn es wirklich brenzlig wird? „Ich versuche, in solchen Situationen so höflich wie möglich zu bleiben. Solange ich höflich bin, haben die keinen Grund auszurasten und dann bin ich ein bisschen in Sicherheit“, erzählt Enya.
Nadine Berneis und ihr Team haben im Rahmen der Kampagne „Sicher. Unterwegs“ Empfehlungen aufgestellt, mit denen Betroffene möglichst sicher nach Hause kommen sollen. Hundertprozentige Sicherheit gebe es nicht, betont die Polizistin. Von sogenannten Begleit-Apps und Heimwegtelefonen hält die Expertin wenig. Das steigere nur das subjektive Sicherheitsgefühl. Das Handy hemme grundsätzlich die Aufmerksamkeit. „Am schnellsten geht es immer noch, wenn die Betroffenen selbst den Notruf wählen“, erklärt sie.
Bewusstsein schaffen
Enya hat ihr Erlebnis mit sexueller Belästigung auf Instagram geteilt. Sie erhielt daraufhin viel Zustimmung von Frauen, die Ähnliches erlebt haben. Auch zwei ehemalige Schulkameraden haben sich erkundigt, wie sie sich als Männer dafür einsetzen können, dass sich die Situation bessert. Das Wichtigste sei es nicht wegzusehen, sind sich Enya Boban und Nadine Berneis einig.
Sich nicht in der Lage zu fühlen, alleine abends noch einen Spaziergang zu unternehmen, das nimmt jungen Frauen Freiheit. Die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ohne die Angst davor, wer oder was sie hinter der nächsten Straßenecke erwartet. Enya wünscht sich, das alles einfach mal hinter sich zu lassen.
„Ich glaube schon, dass da gerade ein Wandel passiert.“
Doch sie hat Hoffnung. „Ich glaube schon, dass da gerade ein Wandel passiert“, meint sie. Es sei wichtig, dass sexuelle Belästigung kein Tabuthema mehr ist und Mädchen und Frauen über das Thema sprechen. Nur durch offene Kommunikation könnten wir Veränderung erreichen. Nadine Berneis und ihr Team vom LKA setzen auf Aufklärung in Schulen. Sie wollen junge Männer früh mit dem Thema in Kontakt bringen und zu Helfern machen.
„Wir als Gesellschaft“, so meint Enya, „müssen für mehr Bewusstsein sorgen.“ Das fehle momentan noch.