True Crime 6 Minuten

Das Geschäft mit der Angst

Eine Person mit langen Haaren schaut die erste Folge der Netflix-Serie " „Jeffrey Dahmer: Selbstporträt eines Mörders“ auf einem Fernseher, das Netflix-Logo ist sichtbar.
Die Faszination für True Crime: Millionen schauen Serien wie „Dahmer“ – doch was bedeutet das für die Betroffenen? | Quelle: Annika Lutz
12. Dez. 2024

Wahre Verbrechen, echtes Leid: Wie weit darf True Crime gehen? Ein kritischer Blick auf die Kommerzialisierung menschlicher Schicksale und unsere Verantwortung als Konsument*innen.

True Crime: ein makabrer Sog, der uns in die dunkelsten Ecken menschlichen Verhaltens zieht. Überall lauschen Menschen Geschichten von Gewalt und Verbrechen. Podcasts und Serien boomen, jedes neue Format erreicht ein Millionenpublikum. Doch hinter diesen Produktionen steckt ein profitables Geschäft, in dem echtes Leid und moralische Fragen aufeinanderprallen. Ist es vertretbar, reale Verbrechen zu kommerzialisieren?

Was steckt hinter True Crime?

True Crime beschreibt die mediale Aufarbeitung realer Verbrechen – vom klassischen Bericht über Mordfälle bis hin zu Podcasts und Serien. Anders als bei Dokumentationen wird True Crime explizit als Unterhaltung vermarktet, häufig unter Verwendung von Spannungselementen wie dramatischer Musik und emotionalen Erzählstrukturen. Ein Beispiel ist der Netflix-Film „Die Brüder Menendez“, der den Fall der Brüder Lyle und Erik Menendez behandelt, die 1989 ihre Eltern ermordeten. Der Prozess wurde zum Medienspektakel und sorgte weltweit für Diskussionen über familiäre Gewalt.

Was True Crime außergewöhnlich macht, ist die Mischung aus Faszination und Abscheu. Wie Anita Biressi, Professorin für Medien und Gesellschaft, in ihrem Buch „Crime, Fear and the Law in True Crime Stories“ erklärt, verbindet True Crime das Schockierende mit gesellschaftlich relevanten Themen und dient so sowohl als Unterhaltung als auch als Spiegelbild gesellschaftlicher Erfahrungen von Kriminalität. 

Infografik zeigt, dass 93 Prozent der True Crime-Podcast-Hörer*innen weiblich sind, rund 62 Prozent regelmäßig und 24 Prozent täglich hören.
93 Prozent der True Crime-Podcast-Hörer*innen sind weiblich – ein Blick auf das konsumierende Publikum und die Häufigkeit des Konsums.
Quelle: Annika Lutz

Ein schmaler Grat zwischen Fakten und Unterhaltung

Im Kern von True Crime steckt das Versprechen, die Realität abzubilden. Doch wie real ist das Bild, das hier vermittelt wird? Ray Surette, Professor für Strafjustiz, beschreibt in „Media, Crime, and Criminal Justice“ wie Darstellungen von Verbrechen bewusst dramatisiert werden, um Spannung zu erzeugen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen Wahrheit und Inszenierung.

Warum zieht uns True Crime an?

Die Faszination für True Crime ist tief in der menschlichen Psyche verwurzelt. Amanda Vicary, Professorin für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie, beschreibt in „Captured by True Crime“ dass viele Frauen True Crime konsumieren, um sich sicherer zu fühlen. Es gibt uns das Gefühl, die Mechanismen von Gefahr und Gewalt besser zu verstehen. Doch der Nervenkitzel birgt auch eine problematische Seite: True Crime ist ein Geschäft, in dem das Leid anderer zum Produkt wird. Reißerische Darstellungen können höhere Zuschauerzahlen erzielen, was sich in höheren Einnahmen niederschlägt. Studien wie die von Ray Surette zeigen, dass mediale Inszenierungen gezielt auf Spannung und Konsum ausgerichtet sind.

Wenn Menschen zu Charakteren werden

Eine zentrale moralische Frage ist, wie True Crime die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen berührt. Täter*innen und Opfer werden oft zu Charakteren stilisiert, deren Geschichten über Jahrzehnte hinweg wiederholt und ausgeschlachtet werden. Daniel Solove, Juraprofessor, kritisiert in „The Future of Reputation“ die dauerhafte Sichtbarkeit realer Personen, die deren Leben nachhaltig beeinflusst. Sie bleiben ein Leben lang mit den Verbrechen verbunden, unabhängig davon, ob sie Täter*innen oder Opfer waren.

Ein besonders umstrittenes Beispiel ist die Netflix-Serie „Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer“. Die Serie erzählt die wahre Geschichte des Serienmörders, der in den 1980er und 1990er Jahren in den USA mindestens 17 junge Männer ermordete. Sie war ein riesiger Erfolg und hielt sich Wochen in den Netflix-Top 10. Die Serie „Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer“ sorgte nicht nur wegen ihres Erfolgs für Schlagzeilen, sondern auch aufgrund der Kritik von Angehörigen der Opfer. Medien berichteten, dass Netflix die betroffenen Familien nicht konsultierte, bevor die Serie veröffentlicht wurde. Dies warf die Frage auf, ob True Crime-Produktionen die Privatsphäre und das Leid der Betroffenen zugunsten von Einschaltquoten opfern.

Eine Gefahr für junge Zuschauer*innen?

True Crime-Formate sind oft frei zugänglich und verfügen über keine Altersfreigabe, was sie auch für Jugendliche leicht konsumierbar macht. Diese Inhalte können nicht nur die Wahrnehmung von Gewalt verzerren, sondern bergen auch das Risiko von Nachahmungstaten, wie der sogenannte „Copycat-Effekt“ zeigt, den Kriminologe David Phillips in „The Impact of Mass Media Violence in U.S. Homicides“ untersucht hat.

Wie weit darf True Crime gehen?

True Crime erhebt oft den Anspruch aufzuklären. Doch bei der Produktion wird selten auf die Angehörigen der Opfer Rücksicht genommen. Ihr Leid gerät in den Hintergrund, während die Taten der Täter*innen ins Rampenlicht rücken. Medienethiker*innen plädieren dafür, dass die Rechte und Gefühle der Angehörigen in den Mittelpunkt gestellt werden sollten. Die Geschichten sollten wahrheitsgetreu, aber auch respektvoll erzählt werden – ohne reißerische Details oder unnötige Dramatisierung.

Kommerzialisierung auf Kosten der Ethik

True Crime ist ein Milliardengeschäft, das von der Faszination für das Dunkle und Abgründige lebt. Doch genau darin liegt die Gefahr: Wenn echtes Leid zur Unterhaltung wird, verlieren wir den Blick für die Betroffenen. Die Kommerzialisierung von Verbrechen fordert uns heraus, kritisch über unseren eigenen Konsum nachzudenken.

Die Verantwortung liegt nicht nur bei den Medienproduzenten, sondern auch bei uns als Konsument*innen. Jeder Klick und jede Folge, die wir ansehen, trägt dazu bei, dass dieses Geschäftsmodell weiterhin floriert. Es liegt an uns, kritisch zu hinterfragen, ob wir True Crime in seiner aktuellen Form unterstützen wollen – oder ob wir auf eine respektvollere und verantwortungsvollere Darstellung bestehen sollten.

Deine Meinung interessiert uns

Beeinflusst die moralische Problematik von True Crime Dein Konsumverhalten?

Ja, ich denke bewusster darüber nach.

Abstimmen

Nein, ich konsumiere es trotzdem wie bisher.

Abstimmen
Nach der Abstimmung siehst du das Ergebnis.