„Habt ihr gestern die neue Folge von der Neun-Uhr-Telenovela gesehen?“
Zwischen deutscher Ordnung und brasilianischem Multitasking
Ich finde, Kulturen lassen sich besonders dann gut beobachten und erfahren, wenn man Familien beim Essen zuschaut. Damit meine ich nicht nur die verschiedenen Gerichte und Essmanieren. Vor allem die Art und Weise, wie Menschen miteinander kommunizieren während sie essen, sagt einiges über ihre Herkunft aus. Bei mir sieht in etwa so aus:
Sobald alle Mitglieder meiner brasilianischen Familie endlich alle angekommen sind – was auch mal mehrere Stunden dauern kann – versammeln wir uns an einem Tisch. Im Sommer grillen wir am Wochenende meistens. So ein Essen zieht sich dann über einen ganzen Nachmittag, manchmal sogar bis in den Abend hinein. Einerseits ist diese Entspanntheit immer sehr schön, da man das Miteinander so richtig genießt und zelebriert. Andererseits sollte man nicht mit Hunger auftauchen, denn bis etwas Essbares auf den Teller kommt, wäre der*die ein*e oder andere schon längst verhungert. Für jemanden wie mich, der mit zunehmendem Hunger auch zunehmend schlecht gelaunt wird eine echte Herausforderung.
Währenddessen tauschen sich meine Onkel an der einen Ecke des Tisches über die Ergebnisse des letzten Fußball-Spieltags aus. Am anderen Ende des Tisches streiten sich meine beiden Cousins, ob Spider Man oder Captain America der bessere Superheld ist. Inmitten all dieser Gespräche versuche ich mich überall da einzubringen, wozu ich etwas weiß: „Worum geht die aktuelle Novela eigentlich? Welches Team steht momentan an der Tabellenspitze? Spider Man ist viel cooler als Captain America, auch wenn der besser aussieht.“ Multitasking ist hier die Devise. Das scheint eine Art angeborener Skill bei Brasilianer*innen zu sein. Ich kann mich ohne Probleme an einer Gruppendiskussion beteiligen und gleichzeitig noch privaten Parallelgesprächen folgen.
Während wir in Brasilien immer der pünktliche Teil der Familie sind, kommen wir bei meinen deutschen Verwandten meist zu spät. Aber mein Opa ist das gewöhnt und beschweren bringt da auch nichts mehr. Um Punkt zwölf Uhr oder eben dann wenn wir ankommen, wird die Vorspeise serviert. Danach der Hauptgang und dann der Nachtisch. Und nach einer kurzen Verdauungspause natürlich noch Kaffee und Kuchen. Es hat alles seine Ordnung. Mein hungriger Magen bedankt sich, denn für Frühstück hatte ich in der Hektik des Zu-Spät-Kommens keine Zeit. Manchmal erzählt mein Opa Geschichten aus der Kindheit meines Vaters. Manchmal diskutieren wir angeregt über die aktuelle Politik und weshalb die Regierung mehr für die Umwelt tun muss. Die Enkel sind natürlich alle für eine radikale Änderung, weil „wir ja gerne auch noch in 30 Jahren sauberes Wasser und Luft hätten“. Die Erwachsenen sehen das mit der Klimapolitik nicht so einfach getan. Insgesamt kann man aber beobachten, dass jeder jeden aussprechen lässt. Parallele Privatgespräche werden, wenn überhaupt, nur in niedriger Lautstärke geführt, um die Gruppenunterhaltung nicht zu stören.
Welches Land finde ich nun besser? Diese Frage kann ich nicht beantworten, denn das wäre so, als würde ich mich für eine meiner Identitäten entscheiden. Aber ich bin beides. Ich bin Brasilianerin und genauso bin ich Deutsche.
Meine andere "Multikulti unboxed"-Kolumne über deutsche und brasilianische Touris findest du hier.