Semesterferien mal anders – mein Aufenthalt in einer Diabetes-Klinik
Die Achterbahnfahrt meines Blutzuckers
Ich nehme den letzten Bissen meines Brotes und nehme dabei meine Insulinpumpe in die Hand. Ich rechne mir aus, wie viel ich für das Essen spritzen muss und gebe dies in der Pumpe ein. Dann bestätige ich. Es vibriert. Die Pumpe ist verstopft. Das erklärt meine hohen Blutzuckerwerte den ganzen Morgen. Ich wechsele meine Nadel und packe den Rest meiner Sachen in den Koffer. Ich ziehe den Reißverschluss zu und hebe den Koffer an. Mir wird schwindelig und ich habe kurz das Gefühl, mir wird schwarz vor Augen. Mein Atem beschleunigt sich, weil ich weiß, dass das nur eins bedeuten kann: mein Blut ist durch den hohen Zuckergehalt übersäuert. Jetzt gilt es viel Wasser trinken, Insulin spritzen und ja keine Bewegung. Letzteres ist aber unmöglich, denn ich muss mich jetzt auf den Weg machen.
Diabetes Typ 1 ist eine Erkrankung, bei der der eigene Körper die insulinproduzierenden Zellen zerstört. Wir brauchen Insulin, damit die Energie der Nahrung in die Zellen gelangen kann. Da Diabetiker*innen kein Insulin mehr produzieren, müssen sie es sich spritzen. Wird das Spritzen vergessen oder ist die Insulinpumpe (nähere Informationen siehe Grafik unten) verstopft, so entsteht ein Insulinmangel. Das kann zu einer Übersäuerung führen, da der Körper nun versucht, den überschüssigen Zucker im Blut über den Urin auszuscheiden. Mehr Informationen über Diabetes findest du hier.
Im Auto merke ich, wie sich das mulmige Gefühl von Schwindel weiter in mir ausbreitet. Aber daran kann ich jetzt auch nichts ändern. Außerdem bin ich gleich in einer Diabetesklinik angekommen. Und sollte das Ganze aus dem Ruder laufen, kann ich dort zumindest sofort betreut werden. Nach dem Check-In geht es zum Blutzuckermessen. Der Wert ist weiterhin hoch. Ich sage dem Pflegepersonal, woran es liegt und was ich bereits getan habe. Sie wollen, dass ich eine Urinprobe abgebe, um zu klären, ob ich wirklich eine Übersäuerung habe. Nach meinem Gang auf die Toilette gebe ich den Becher mit der gelben Flüssigkeit ab. Ich konnte im Bad den süßlichen Geruch des Zuckers in meinem Urin riechen. Das tue ich immer, wenn meine Blutzuckerwerte erhöht sind. Das Ergebnis ist positiv. Also heißt es zurück aufs Zimmer, weiter trinken und bloß nicht einschlafen.
Die nächsten Stunden ziehen sich. Aufgrund der aktuellen Corona-Lage müssen wir in unseren Zimmern bleiben, bis das Ergebnis unseres Testes eintrifft. Morgen treffen weitere junge Diabetiker*innen ein und am Tag darauf starten die Schulungen. Zusammen mit ihnen werde ich mich die nächsten zehn Tage rund um die Uhr mit dem Diabetes auseinandersetzen. Im Laufe des Tages habe ich verschiedene Gespräche. Mit den Pfleger*innen gehe ich verschiedene Informationen zu meiner Insulintherapie durch. Mit dem Arzt spreche ich über meinen aktuellen Gemütszustand. Er fragt mich, ob mein Diabetes Auswirkungen auf meine mentale Gesundheit hat. Die Antwort ist schwer zu formulieren, denn es variiert. Es gibt Tage, an denen die Schwankungen in meinen Blutzuckerwerten oder das häufige Ausrechnen meiner Insulinmengen keine Auswirkungen auf meine Stimmung haben. Schließlich habe ich Diabetes seit 18 Jahren und kenne mein Leben daher gar nicht anders. Aber es gibt auch Tage, an denen fällt mir jede kleine Entscheidung schwer. Tage, an denen ich mir gerne eine Pause von meinem Diabetes nehmen würde, aber das natürlich nicht geht.
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Meine Werte sind nun wieder im Normalbereich. In der Zwischenzeit ist auch meine Zimmernachbarin eingetroffen. Wir reden ein bisschen und stellen schnell fest, dass wir einige Parallelen haben. Wir studieren beide und haben den Diabetes bereits als Kleinkinder bekommen. Die nächsten 36 Stunden verlaufen recht eintönig. Im Laufe der Nacht wurden wir von der Nachtkrankenschwester gemessen. Es ist ein ungewohntes, aber zugleich auch behütendes Gefühl. Ungewohnt, weil ich im Normalfall nicht mitten in der Nacht geweckt werde, um meinen Blutzucker zu kontrollieren. Behütend, weil ich weiß, dass mir jederzeit jemand helfen kann. Im Alltag bin ich immer selbst für meinen Diabetes zuständig. Meine Ärzt*innen besuche ich nur einmal im Quartal. Alles andere kann und muss ich selbst schaffen.
Die unangenehme Stille beim Kennenlernen
Es ist das erste Mal, an dem wir aus unsere Zimmer verlassen dürfen. Wir wurden noch vor sieben Uhr morgens geweckt zum Messen. Dann haben wir mit dem Pflegeteam besprochen, ob wir vor dem Essen spritzen oder erst danach. In der Cafeteria treffen wir dann auf die anderen Patienten, die in der Klinik stationiert sind. Es ist ein seltsames Gefühl, ausnahmsweise eine von vielen zu sein. Hier in der Klinik ist man als Diabetiker*in in der Mehrheit. So eine Situation hat man sonst nie. Beim Frühstücksbuffet findet alle nötigen Informationen, die man hinterher für die Berechnung der Insulinmenge braucht. Im Alltag wiege ich mir mein Essen meist ab oder muss schätzen, wie viele Kohlenhydrate ich gerade zu mir nehme und berechne aufgrund dessen, wie viel ich spritzen muss.
Im Gruppenraum lernen sich nun alle kennen: Jede*r stellt sich vor, alle sind zwar interessiert, aber gleichzeitig herrscht auch ein stilles Übereinkommen, dass die Situation jedem*jeder gerade ein bisschen unangenehm ist und man gerne zum „Bekanntenstatus“ springen würde. Die Teilnehmer*innen sind alle zwischen 19 und 25 Jahren alt. Manche arbeiten, andere machen eine Ausbildung und nur meine Zimmernachbarin und ich studieren. Manche haben eine Insulinpumpe, andere spritzen sich mit Insulinpens. Manche haben seit über zehn Jahren Diabetes, andere erst seit vier oder fünf. Aber alle möchten irgendetwas an ihrer Einstellung oder ihrem Handeln mit Diabetes verändern. Nach der ersten Basics-Stunde ist der Tag auch irgendwann vorbei und wir haben nach dem Abendessen Freizeit. Wir verbringen diese im Gruppenraum und tauschen uns über unsere Diabeteserfahrungen aus.
Gekochte Eier, Würstchen und Tomaten – unsere Einkaufsliste für den täglichen Auslauf
In den folgenden Tagen haben wir verschiedene Schulungen. Mit der Diabetes-Beraterin sprechen wir Beispiel-Situationen durch: Wie spritze ich mich am besten, wenn ich beim Asia-All-you-can-eat in ein Fresskoma verfalle? Was sollte ich beim Feiern gehen beachten? Mit der Psychologin sprechen wir darüber, was uns motiviert im Leben und wie wir mit Tiefphasen im Diabetes umgehen können. Außerdem muss jeder von uns ein Projekt ausarbeiten, wie man eine Baustelle im Umgang mit dem eigenen Diabetes angehen will. Unsere Projekte brauchen klar definierte und messbare Ziele. So genannte SMARTe Ziele. Das kenne ich vom Studium her, dachte aber nie, dass ich das irgendwann im Privaten gebrauchen werde. Mein Projekt ist es, mir Routinen zu schaffen, in denen ich meine Diabetes-Ziele einbauen kann.
Ansonsten bestehen unsere Tage noch aus den Mahlzeiten in der Cafeteria und täglichen Ausflügen in den nahe gelegenen Edeka, damit wir kohlenhydratfreie Snacks kaufen können und uns abends damit den Hunger und die Langeweile vertreiben können. Inzwischen hat sich eine gute Gruppendynamik gebildet. Es geht in unseren Gesprächen inzwischen weniger nur um Diabetes, sondern mehr darum, was uns davon abgesehen noch ausmacht und uns bewegt. Aber selbst, wenn es mal ganz diabetes-bezogene Situationen gibt, versteht man sich meist auch wortlos: Sobald man etwas essen muss wegen einer Unterzuckerung, nickt die eine Hälfte mitfühlend und die andere schaut halb neidisch auf den leckeren Schokoriegel, den man gerade für Umme – also ohne sich dafür extra zu spritzen – essen darf. Unterzuckerungen fühlen sich für jeden Diabetiker anders an. Bei mir startet es meist mit einem flauen Gefühl im Magen, das ich nur in diesen Situationen bekomme. Dann werden meine Hände schwitzig. Stehe oder laufe ich gerade, werden meine Knie weicher und weicher. Bei schlimmen Unterzuckerungen fällt mir manchmal sogar das Denken oder die Koordination schwer.
Der Abschied ist süß, bittersüß
In den letzten Tagen finalisieren wir unsere Projekte und stellen sie vor. Manche haben eine Power-Point Präsentation erstellt, andere ein einfaches Plakat. Wie in jeder Sitzung geben wir uns gegenseitig Tipps, um mögliche Hindernisse zu lösen. Jede*r versucht sich in den*die andere*n hineinzuversetzen und eine Lösung zu finden. Die Sitzungen sind immer intensiv. Dadurch haben wir aber auch ein gewisses Vertrauen zueinander aufgebaut.
Ein weiterer Bestandteil unserer Tage sind Protokollbesprechungen. Zusammen mit der Beraterin und dem Arzt schauen wir jede einzelne Blutzuckerkurve an und überlegen, was man in der Therapie verändern könnte. Dem Team ist es wichtig, dass wir sowohl die technischen Fähigkeiten als auch das Selbstvertrauen in uns erlernen, um selbst Änderungen vorzunehmen. Ziel ist es, sich durch Wissen, Erfahrungen und Intuition einen Werkzeugkasten anzulegen, den wir dann flexibel in unserem Alltag anwenden können. Anfangs waren wir alle unsicher, ob wir selbst überhaupt Muster erkennen und Lösungen finden können. Aber mit der Zeit haben wir erkannt, dass es keine perfekte Lösung gibt. Man kann an dem einen Rad drehen, findet aber nur heraus, ob es das Richtige war, wenn man mit dieser neuen Lösung auch mal fährt.
Und dann, ganz plötzlich, ist unsere Zeit in der Diabetesklinik auch schon vorbei. Ich bin zwar froh, wieder nach Hause zurückzukehren. Dennoch ist eine gewisse Unsicherheit da, ob man das alles zuhause alleine genauso umsetzen können wird. Es ist ein bittersüßes Gefühl, und das nicht nur, weil ich bei meiner Abreise erneut hohe Werte habe. Die Zeit war intensiv, aber auch sehr lehrreich. Ich gehe aber mit der Gewissheit, dass selbst, wenn es in Zukunft nicht so gut läuft oder ich in alte Muster verfalle, eines bedeutend anders sein wird als vorher: Jetzt habe ich ein Auffangnetz von sieben wunderbaren Leuten, die einem Ratschläge, Motivation oder auch einfach mal ein „Ich fühle mich gerade genauso“ schenken können.