„Liebe allein reicht leider nicht“
Elke macht es sich auf der Hollywoodschaukel auf ihrer Terrasse gemütlich. Dort liest sie normalerweise Zeitung und organisiert anstehende Termine, bis die Kinder aus der Schule kommen. Noch bevor Lisa* zu sehen ist, hört man das blonde Mädchen rufen: „Hallo Elke, schau mal, wie schwer mein Rucksack ist.“ Kurz darauf taucht sie im Blickfeld auf und stellt sich direkt neben Elke. Stolz erzählt die Zwölfjährige, dass sie heute neue Bücher für das nächste Schuljahr bekommen hat. Sie streckt Elke ihren bunten Schulranzen enthusiastisch entgegen. Elke lacht, hievt den prallen Rucksack hoch: „Puh, der ist wirklich schwer!“
Elke Härtner ist bereits seit sechs Uhr auf den Beinen. Sie hat das Frühstück gerichtet und sich darum gekümmert, dass die Kinder schulfertig sind. Es sind aber nicht ihre leiblichen Kinder: Die 58-Jährige arbeitet als Kinderdorfmutter im SOS-Kinderdorf in Oberberken, Schorndorf. Dort können Kinder und Jugendliche, die aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren Eltern aufwachsen können, ein zweites Zuhause finden. Das Jugendamt übernimmt die Vermittlung.
Kurz darauf trifft der Nächste ein: „Ich bin da, hab den früheren Bus bekommen. Elias aber nicht, den habe ich noch rennen sehen“, sagt der 14-jährige Marvin und lacht, weil der jüngere Mitbewohner nun auf den Bus warten muss. Elke begrüßt ihn mit einer Umarmung und sie sprechen über seinen Tag in der Schule. Bald ist es 14 Uhr und die weiteren vier Kinder kommen an – dann ist es Zeit für das gemeinsame Mittagessen.
Als Kinderdorfmutter nimmt Elke für die Kinder eine zentrale Rolle als neue Bezugsperson ein – quasi eine zusätzliche Mutter. Sie lebt mit ihnen zusammen und kümmert sich um sie: „Auch wenn ich sie nicht geboren habe, fühlt es sich an, als wären es auch meine Kinder.“
Beruf als Lebensaufgabe
Wenn ein Kind einen Platz in einem der Wohnhäuser bekommt, wohnt es dort meist mehrere Jahre. Daher sucht die Organisation „SOS-Kinderdorf Württemberg“ in der Regel nach Dorfeltern, die zu Beginn der Ausbildung nicht älter als 48 Jahre alt sind. Denn wer sich für diesen Beruf entscheidet, bindet sich meist so lange an das Haus, bis die darin lebenden Kinder volljährig werden und ausziehen. „Der Beruf ist eine Lebensaufgabe, wie eben das Elternsein auch eine ist“, meint Elke.
Mit der Unterstützung einer guten Freundin entschloss sie sich damals mit 41 Jahren für diesen Weg. Nach drei Jahren einer intensiven Lehre zur Jugend- und Heimerzieherin und neun Monaten Hospitanz übernahm Elke das Haus Nummer acht – und damit die Verantwortung für fünf Geschwisterkinder zwischen zehn Monaten und zwölf Jahren. Das ist dreizehn Jahre her. Inzwischen wohnen nur noch die zwei jüngeren Brüder im Haus und vier weitere Kinder sind nachgerückt.
Volles Haus und viele Termine
Nach dem Mittagessen wird nicht lange getrödelt: die drei älteren Jungs gehen auf ihr Zimmer, um dem Trubel der drei Jüngeren zu entkommen. Diese drei wuseln noch in der Küche herum, bis sie sich an ihre Hausaufgaben setzen. „Elke machst du heute mit mir die Hausi?“, säuselt Julia und zeigt ihre besten Rehaugen. „Heute nicht. Ich bringe Lisa gleich zur Logopädie“, antwortet Elke. Die Siebenjährige versucht es noch drei, vier Mal, bis sie sich tatsächlich in ihrem Zimmer an den Schreibtisch setzt. „Komm Lisa, wir müssen gleich los“, sagt Elke und läuft in Richtung Haustür.
Wenn Elke nicht gerade die Kinder betreut, kümmert sie sich um all die anderen Dinge: Einkaufen, Wäsche waschen und zu Terminen mit dem Jugendamt gehen. Sechs Tage die Woche wohnt sie im Haus. An ihrem einen freien Tag fährt sie in ihre Zweitwohnung, die etwa eine Autostunde entfernt ist. „Ich genieße es, dass ich einmal in der Woche Zeit für mich habe“, sagt sie.
Früher sei ihr das nicht so leichtgefallen. Als die Kinder noch jung waren, wollte sie rund um die Uhr für sie da sein: „Besonders, wenn sie krank waren, fiel es mir schwer abzuschalten.“ Inzwischen habe sie gelernt, dass auf ihre Kolleginnen und Kollegen Verlass sei und sie sich auch mal ausruhen dürfe. Im Haus arbeiten weitere pädagogische Teilzeitkräfte, um Elke zu entlasten – so ist es auch in den anderen Kinderdorffamilien.
„Sehe ich meine Mama bald wieder?“, fragt Julia und steht vor dem Wandkalender in der Küche, tritt unruhig auf der Stelle, Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Wenn es ihr besser geht, dann kommende Woche. Erinnerst du dich? Sie ist erkältet“, erwidert Elke gelassen, während sie die Reste vom Mittagessen weiter im Kühlschrank verstaut. „Ja, stimmt“ – ein Moment Stille – „Ich vermisse sie schon“, murmelt die Jüngste des Hauses. Elke dreht sich mit einfühlsamem Blick um, überbrückt die wenigen Meter Entfernung und nimmt das Mädchen in den Arm, streicht ihr über den Rücken: „Sie vermisst dich bestimmt auch. Jetzt hoffen wir, dass sie schnell wieder gesund wird, ja?“. Julia beginnt wieder zu lächeln und umarmt sie.
Eine der größten Herausforderungen für Elke hat in erster Linie nichts mit den Kindern zu tun, sondern dem Verhalten der Eltern. In den meisten Fällen stellen die Eltern nach einem längeren Beratungsprozess durch das Jugendamt den Antrag auf Hilfe zur Erziehung. Dafür gibt es genug Gründe: eine Krankheit, Sucht, finanzielle Not oder ein Todesfall. „Liebe allein reicht leider nicht, um ein Kind großzuziehen“, sagt Elke. Es brauche auch Erziehung, ein stabiles Umfeld und die Möglichkeit, sich zu entwickeln. „Wir können den Kindern nur richtig helfen, wenn die Eltern kooperieren“, sagt sie.
Eltern fehlt häufig das Verständnis
Elke kann sich vorstellen, wie schwierig es für betroffene Eltern sein muss, zu sehen, dass ihr Kind von der Einrichtung alles bekommt, was es braucht: genug zu essen, passende Kleidung, ein eigenes Zimmer und das Wichtigste – Sicherheit. „Es ist wichtig, dass es Orte wie diese gibt, in denen Kinder wieder ein Stück weit behütet werden und Raum zum Wachsen bekommen“, sagt die Kinderdorfmutter.
Doch egal, wie schwierig die Situation für die Eltern sei, sie sollten ihrem Kind zuliebe Stärke zeigen. Am Anfang konnte Elke nicht verstehen, wieso viele Eltern es nicht taten. Nicht erleichtert waren, dass es ihrem Kind im Dorf gut geht. Sie habe sich gefragt, wo die Dankbarkeit sei. „Ich habe sehr viel Wut in mir gehabt“, erzählt die 58-Jährige. Also nutzte Elke die Hilfsangebote des Dorfes, um über ihren Frust zu sprechen. Der Austausch mit ihren Kolleginnen und Kollegen sowie Beratungsgespräche mit geschultem Personal halfen ihr. Die wichtigste Energiequelle seien aber die Kinder: „Man bekommt immer wieder neue Kraft, wenn man sieht, was die Kinder alles schaffen.“ Nicht nur Erfolge, die sie in der Schule, Ausbildung und in Vereinen erzielen, sondern wie sie Interessen entwickeln und verfolgen – einen Charakter formen.
Gestritten wird auch in Haus acht
Mario kommt am Nachmittag vom Sportplatz zurück, wo er mit den Kindern aus dem Dorf Fußball gespielt hat. Der 15-Jährige ist der Zweitälteste, aber auch der Größte, unter den Kindern im Haus – und wird auch mal gern aufmüpfig: „Elke wieso gibt es eigentlich schon wieder dein Lieblingsessen? Du machst nur, was du willst“, ärgert er sich. Elke sitzt gelassen auf ihrem Platz am Tischende, schüttelt den Kopf und erwidert: „Du musst halt sagen, was du essen willst, oder mitkommen zum Einkaufen.“ Während Mario wiederholt, wie oft es Reispfanne mit Gemüse gäbe, schmunzelt Elke. Immer wenn er guckt, schaut sie wieder ein Ticken ernster, um zu zeigen, dass sie ihm zuhört. Sie diskutieren noch eine kurze Zeit über die vergangenen und zukünftigen Mittagessen, bis Mario sie nach ihrem Tag fragt und wie es ihr geht.
Elke ist der Meinung: Diskutieren, Akzeptieren und Versöhnen will gelernt sein. „Ich streite gern, das gehört zum Leben“, sagt sie und lacht. Man könne eine Eskalation nur vermeiden, wenn die Beteiligten die Gründe für ihre Wut oder Frustration verstehen und in Worte fassen können. Es müsse immer klar sein, dass es um ein Problem mit dem Verhalten der Person geht und nicht um dessen Persönlichkeit. Um sich nach einem Streit wieder zu versöhnen sind Vertrauen und Interesse am Gegenüber maßgebend. Als praktizierende Kinderdorfmutter sowie als Bezugsperson, ist das bei Elke der Fall.
Elke sagt: „Es ist wichtig die Auseinandersetzung gemeinsam durchzustehen. Es zeigt: Ich bin auch da, wenn du mich anschreist. Das gibt Sicherheit.“ So könne Elke den Kindern zeigen, dass sie auch, wenn sie sich falsch verhalten, nicht emotional dafür bestraft werden. Für sie ist der wichtigste Baustein, um Vertrauen aufzubauen, eindeutig: „Du musst einfach nur da sein. Zuhören und in den Arm nehmen. Präsent sein.“
Von der Zahnarztpraxis ins SOS-Kinderdorf
„In meinem ersten Leben war ich Managerin in einer Zahnarztpraxis“, erzählt Elke. Als ihr damaliger Chef krankheitsbedingt aufhörte, hatte sie die Wahl: dortbleiben oder einen neuen Weg einschlagen. Elke selbst hat elf Geschwister, viele Nichten und Neffen und liebt das Großfamilienleben: „Es war immer ein Wunsch von mir, eine eigene Familie zu haben.“ Trotz langjähriger Beziehungen habe sie bis jetzt nicht den richtigen Partner finden können und daher auch keine leiblichen Kinder.
Die Herzlichkeit einer eigenen Familie wollte sie dennoch erleben und so entschloss sie sich für diesen Beruf: „Ich hatte nie das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Hier ist für mich der richtige Platz.“ Das Einzige, was sie manchmal vermisst, ist Spontanität. Einfach mal schwimmen gehen oder ins Kino. Einfach mal Freunde zum Essen einladen. Einfach mal verreisen: „Im Dorf muss immer alles geplant sein.“ Termine der Kinder, Termine mit dem Jugendamt, Schichtplan im Haus und die Verantwortung für sechs Kinder lassen wenig Spielraum für spontane Aktionen.
Lange dauert es nicht mehr, dann wird Elke wieder mehr Freizeit haben. In drei Jahren wird sie mit 61 Jahren in Frührente gehen. Bis dahin werden zwei der sechs Kinder volljährig und außer Haus sein. „Marvin wird etwa ein halbes Jahr später 18 Jahre alt. Vielleicht nehme ich ihn bis dahin in meiner Wohnung auf“, erzählt sie von ihren Plänen. Denn für sie bedeutet das Ende ihres Berufs nicht das Ende ihrer Fürsorge: „Es ist ja nicht nur Arbeit, sondern mein Leben.“
Die drei Jüngeren des Hauses werden dann für ihre letzten Jahre im Dorf wahrscheinlich auf die anderen Häuser verteilt – oder können zurück zu ihren leiblichen Eltern, sofern diese die Auflagen des Jugendamts erfüllen. Was Elke vermissen wird: „Das Team aus dem Dorf. Wir sind hier so eine gute Gemeinschaft und das wird mir fehlen.“
Für immer eine Mama
Um den Kontakt zu den Kindern macht sie sich keine Sorgen: „Meine Kinder bleiben mir erhalten.“ In der Zwischenzeit sind bereits fünf ausgezogen und sie hat noch regelmäßig Kontakt mit ihnen. Das sei auch gleichzeitig die größte Errungenschaft für sie: „Ich sehe, wie alle ihren Weg gehen, eine Perspektive bekommen haben und sie kommen zu mir, um davon zu erzählen.“ Elke kam 2011 in das Dorf, um Kindern ein Zuhause zu geben. Im Jahr 2027 wird sie offiziell ihr Amt als Kinderdorfmutter von elf Kindern niederlegen – aber nicht ihre Rolle als zweite Mutter.
*Die Namen der Kinder wurden zu ihrem Schutz geändert. Die richtigen Namen liegen der Redaktion vor.