Thüringen wählt radikal. Oder doch nicht?
Mehr als die Hälfte (54 Prozent) der Wahlstimmen vergaben die Thüringer*innen an AfD und Linke – das zeigen die Wahlergebnisse der Landtagswahlen 2019. In Baden-Württemberg konnten die beiden Parteien am Rand des Spektrums 2021 zusammen gerade einmal 13 Prozent der Wähler*innen für sich gewinnen. Anne Küppers, promovierte wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Jena, beschäftigt sich mit den politischen Einstellungen in Thüringen. Auf die Frage, ob Thüringen radikaler wähle als andere Bundesländer, antwortet sie: „Jein“. Ihr Fazit lautet: „Der Osten wählt anders als der Westen.“ Vor allem beim Blick nach rechts – und damit auf die AfD – könne man tatsächlich zu dem Schluss kommen, dass dieses Urteil stimme. Das Phänomen sei aber nicht nur im Freistaat zu beobachten, sondern auch in anderen neuen Bundesländern wie beispielsweise Sachsen und Brandenburg. Dennoch hebt sich das Südwestlichste der ostdeutschen Länder zusätzlich durch einen Ministerpräsidenten, der der Partei „die Linke“ angehört, ab. Ganz besonders in Thüringen sei, laut Küppers, die Linke nach ihrem Programm jedoch eher in der politischen Mitte zu verorten. Sie besetze dort eine Position, auf der in anderen Bundesländern die SPD zu finden sei.
Das Blatt wendet sich
Die Linke und AfD sind in Thüringen deutlich gewachsen, insbesondere in den vergangenen Jahren. Vor dem Aufschwung der Randparteien dominierte die CDU. 24 Jahre lang war sie stärkste Kraft. Michael Panse, ehemaliger Landtagsabgeordneter der CDU und Kandidat für die Kommunalwahlen, resümiert: „Die Wähler hatten durch die damalig beliebte Bundesregierung (CDU/SPD) die Hoffnung auf eine starke CDU- oder SPD-geführte Landesregierung. Damalige Ministerpräsidenten wie Bernhard Vogel galten als Sympathieträger.“ Doch ab 2014 wendete sich das Blatt: Die neue Landesregierung setzte sich aus der Linken, den Grünen und der SPD zusammen. Bodo Ramelow, bis dahin Abgeordneter der Linken, wird damit der erste Linke, der als Ministerpräsident in Deutschland ein Bundesland regiert. Parallel wächst allerdings auch die AfD. Bei der Landtagswahl 2019 landet sie mit 23,4 Prozent den ersten Überraschungserfolg. Nach Küppers sei zwar die Stärke der Rechtsaußen durchaus ein ostspezifisches Phänomen, dennoch habe die Partei vereinzelt auch in den westdeutschen Bundesländern gut abgeschnitten. Anders in Baden-Württemberg. Im „Ländle“ beispielsweise dreht sich der Trend um: Mit 9,7 Prozent 2021 fährt die AfD einen Verlust von fünf Prozent zu den vorherigen Wahlen ein.
Unzufriedenheit mit der Demokratie
Inwiefern rechtspopulistische Einstellungen vom Ort abhängig sind, untersuchten 2023 die Sozialwissenschaftler*innen Kai Arzheimer und Theresa Bernemann in ihrer Studie „‘Place’ does matter for populist radical right sentiment, but how? Evidence from Germany“. Eine klare Erkenntnis: rechtspopulistische Einstellungen herrschen vor allem in Thüringen, Sachsen, sowie Teilen von Ostbayern vor. Hierzu arbeitet Anne Küppers, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Jena gemeinsam mit einem Team an der Erstellung des Thüringen-Monitors. Dieser führt eine jährliche Studie durch, bei der wahlberechtigte Bürger*innen nach ihrer Einstellung zur Demokratie, Antisemitismus und Rechtsextremismus befragt werden. Die rechtsextremen Einstellungen in Thüringen stiegen im vergangenen Jahr von 12 auf 19 Prozent. Migrantenfeindlichkeit sowie Antisemitismus nahmen analog zu. Die Studie misst stichprobenartig die politische Orientierung. Nur 38 Prozent der Thüringer*innen ordneten sich demnach 2022 in der politischen Mitte ein, wohingegen sich deutlich mehr (45 Prozent) links der Mitte und 17 Prozent rechts der Mitte einordneten. Durch den Fachkräftemangel wächst auch die Unzufriedenheit mit der Demokratie. Die politische Einstellung unterscheide sich deutlich im städtischen und ländlichen Raum. Das Stadt-Land-Gefälle wirke sich dabei auf die politische Einstellung der Menschen aus, wobei Rechtspopulismus auf dem Land stärker ausgeprägt sei als in den städtischen Regionen Thüringens, so Küppers.
Der Trend nach rechts
„Rechtspopulistische Einstellungen sind in strukturschwächeren Regionen stärker ausgebildet, vor allem in Gebieten, denen es in der Vergangenheit wirtschaftlich gut ging und die anschließend einen wirtschaftlichen Abschwung erlebten“, erklärt Küppers. Insbesondere das Gefühl des „Abgehängtseins“ laste auf den Schultern der ostdeutschen Bürger*innen. Obwohl die Wiedervereinigung bereits 34 Jahre her ist, fühlten sich laut Küppers 40 Prozent der Befragten in Thüringen aufgrund ihrer ostdeutschen Herkunft benachteiligt. Die Gründe dafür seien vielfältig. Zum einen würden die Ostdeutschen mit Vorurteilen konfrontiert. Zudem spürten die Thüringer*innen eine wirtschaftliche Benachteiligung. Die Bruttolöhne betragen noch immer nur 85 Prozent der Bruttolöhne im Westen. Die Wissenschaftlerin erklärt, es gebe ein Gefühl der Benachteiligung, was sich im Vergleich zu Westdeutschland in einer stärker ausgeprägten Migrant*innenfeindlichkeit ausdrücke. Grund dafür sei der Eindruck, dass Migrant*innen besser behandelt würden, als die Thüringer*innen selbst es nach der Wende wurden, erklärt die Wissenschaftlerin. Der Thüringen Monitor zeigt, dass sich das Gefühl des „Abgehängtseins“ stark auf die politische Einstellung zu Rechtsextremismus, Demokratie und Antisemitismus auswirkt.
Abstiegsängste und allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik beschränkten sich nicht nur auf Ostdeutschland. Deutschland- und europaweit sei ein anhaltender Trend nach rechts zu erkennen.
Wählen: Eine Frage des Milieus?
Anders sieht es die Bertelsmann Stiftung. Der 2019 von ihr veröffentlichte „Einwurf“ zeichnet eine andere Sicht auf die Wahlentscheidung der Thüringer*innen. Demnach wählen die Ostdeutschen gar nicht anders als die Westdeutschen. Vielmehr seien es die gesellschaftlichen Milieus, die in beiden Landesteilen ähnlich wählen. Die Unterschiede zwischen West und Ost entpuppen sich dabei als nicht so groß wie die Unterschiede der sozialen Milieus. Dieser Konflikt spalte die Gesamtgesellschaft in das „Milieu der Modernisierungskeptiker“ und „Modernisierungsbefürworter“. Das Ergebnis: Ähnliche soziale Lagen prägen ähnliches Wahlverhalten. In Thüringen zögen vor allem junge und gut ausgebildete Menschen weg und hinterließen eine eher ältere Wählerschaft mit tendenziell traditionellen oder konservativen Einstellungen, so Küppers.
Wie hoch ist der Zuspruch der AfD in Thüringen wirklich? Rund 64 Prozent der Wähler*innen gingen 2019 zur Stimmabgabe in Thüringen. Nach Küppers bedeute das aber auch, dass rund 80 Prozent der wahlberechtigten Bürger*innen in Thüringen die AfD nicht wählen. „Man muss aufpassen, dass man nicht alle über einen Kamm schert.“ Viele Menschen gaben ihre Stimme nicht der AfD, sondern der Linken, die mit 31 Prozent 2019 die stärkste Partei war.
Wer sind die Wähler der Rechtsaußen? Stimmen gewinnt die AfD deutlich mehr bei Männern als bei Frauen, ermittelte das Infratest dimap. Im Hinblick auf das Alter lässt sich allerdings kein Trend erkennen, über alle Altersgruppen hinweg ist die Partei vertreten. Im Gegensatz dazu fühlen sich vor allem ältere Menschen von der Linken angesprochen.
Was bringt die Zukunft?
Wie sich die politische Lage in Thüringen in der Zukunft entwickeln werde, beschreibt Küppers so: „Die aktuelle politische Situation in Thüringen wird kurz bis mittelfristig weiter bestehen.“ Bei der Sonntagsfrage „Wen würden Sie wählen, wenn nächste Woche Landtagswahlen wären?“ ist die AfD derzeit mit rund 30 Prozent stärkste Kraft. Auch das neu hinzugekommene Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) erzielt in Umfragen auf Anhieb 15 Prozent Zustimmung. „Ich sehe nicht, dass die aktuelle Regierung das Ruder herumreißt“, so Küppers. Eines ist klar: Die auf Landesebene regierenden Parteien haben extrem an Zuspruch verloren. Für die kommenden Landtagswahlen heißt das: Es bleibt spannend, welche Partei die nächste Wahl gewinnen wird.