„Dich gib´ma nimmer her“
Tatjana hat ADHS: Wie Inklusion Träume verwirklicht
Die Weihnachtsdeko strahlt eine behagliche Wärme im modern eingerichteten Café aus. Nervös versteckt Tatjana die Hände unter ihre Beinen und wackelt leicht. „Die Tatjana kenne ich jetzt schon wie lange?“, fragt Katja Becker und schaut Tatjana warm an. „Oh, das sind jetzt so zehn Jahre.“ Beide brechen in ein herzliches Lachen aus, das den ganzen Raum erfüllt. Es herrscht Trubel, die meisten Tische sind besetzt und doch übertönt Tatjanas ansteckendes Lachen alles andere.
„Ich wollte schon immer in einem Café arbeiten“, erzählt die 34-Jährige, das Lächeln noch immer auf den Lippen. Ein Kindheitstraum, der dank dem integrativen Konzept des Café Morlocks der Werkstätten Esslingen Kirchheim (WEK) wahr wurde. Tatjana Kühr hat ADHS mit Mischtypus. In ihrem Fall eine leichte Intelligenzminderung. Dies beeinträchtigt den Informationsspeicher des Gehirns und es fällt ihr schwer, sich zu konzentrieren. Eine Diagnose, die für die Betroffenen den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt erschwert.
Die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) kommt bei drei bis fünf Prozent der Kinder vor und umfasst drei Kernsymptome: Aufmerksamkeitsstörung, Hypermotorik und Impulsivität. Im Erwachsenenalter halten diese bei 70 Prozent der Betroffenen weiter an –allerdings verändert sich die Symptomatik im Altersverlauf. Ursachen können unter anderem gentechnisch, neurobiologisch, psychosozial und umweltbedingt belegt werden. Menschen mit Intelligenzminderung leiden häufig an ADHS. Die Therapie kann neben Medikamenten auch eine neuropsychologische und verhaltenstherapeutische Behandlung erfordern.
Die WEK versuchen den Zugang zum Arbeitsmarkt für Betroffene zu vereinfachen. Sie bieten den sogenannten Berufsbildungsbereich an. Das ist eine praxisorientierte Ausbildung, die sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten soll, die Tatjana absolviert hat. Danach begann sie ein Praktikum in einer Schreinerei. Als eine ehemalige Schulkameradin ihr Praktikum im Café Morlock früher beendete, ergriff sie die Chance und bewarb sich für die Stelle. Da sagte ihr ihre Chefin Lilith: „Dich gib´ ma nimmer her“. „Inzwischen arbeitet Tatjana in allen Bereichen und kann sogar alleine den Laden auf- und zuschließen, wenn Personal ausfällt“, fügt ihre Teamleiterin Katja hinzu.
Tatjana schwärmt vom „WOW-Day“ im Café, an diesem Tag wird den Mitarbeitenden viel Verantwortung übertragen:. „Wir WEK-ler haben das Café alleine geschmissen. Das war ein ganz besonderer Tag. Wir mussten viel vorbereiten. Es war eine riesige Herausforderung, aber es hat Spaß gemacht“, fährt sie mit einem stolzen Lächeln fort. Die Wortwahl fällt ihr manchmal schwer, und sie wechselt zwischen den Themen. Es sind ihre Symptome, die auf die Krankheit hinweisen. Ihr gelbes T-Shirt mit der Aufschrift „Wir führen zusammen“ passt zu ihrem Charakter. Mit ihrem strahlenden Lächeln und ihrer ansteckenden Fröhlichkeit zieht sie nicht nur ihre Kolleg*innen, sondern auch die Gäste sofort in ihren Bann. Obwohl der Raum besonders warm ist, ist es ihre herzerwärmende Art, die man spürt.
Die Werkstätten Esslingen Kirchheim (WEK) sind anerkannte Werkstätten für Menschen mit geistiger und körperlicher Behinderung. Sie bieten vielfältige Unterstützung, darunter Arbeitsmöglichkeiten, berufliche Assistenz und Beratung, um ein selbstbestimmtes Leben zu fördern. Der Schwerpunkt liegt dabei auf individueller Förderung und Integration. Momentan führen sie drei Integrative Cafés, mehrere Werkstätte, ein Maultaschenlädle, ein Lebensmittelgeschäft, Außenarbeitsgruppen und einen Veranstaltungsort, die Arbeitsplätze für rund 500 Menschen mit Behinderung schaffen.
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Arbeit und Ausbildung – ein Balanceakt
Die 34-Jährige arbeitet Vollzeit und besucht jeden Donnerstag zusätzlich die Schule, um ihre Ausbildung abzuschließen. „Das macht mir Spaß!“, sagt Tatjana schlicht. Teamleiterin Katja erklärt, dass diese Ausbildung mit einem Zertifikat abgeschlossen wird. Dieses soll Tatjana auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten. „Menschen mit Beeinträchtigungen haben dort leider wenig Chancen, weil es oft Vorurteile und Unsicherheiten gibt“, fügt Katja hinzu. Das Zertifikat soll helfen, diese Barrieren abzubauen und Betroffenen mehr Selbstvertrauen geben. Tatjana nickt: „Ich finde es schade, dass viele da einfach untergehen“. Sie denkt nach: Ihre Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, die Hände kauernd vor dem Mund. Die Augen sind zwar auf die Tischdeko gerichtet, aber die Gedanken spielen sich in der Ferne ab. Sie hatte es nicht immer einfach. Vor der Diagnose war sie in der Schule überfordert und wurde gemobbt. Nachdem sie auf eine Sonderschule kam und der Lernstoff ihren Bedürfnissen angepasst wurde, wurde es besser. „In den zehn Jahren, die ich Tati jetzt schon kenne, hat sie sehr an Selbstvertrauen gewonnen. Man sieht: Inklusion macht auch was mit den Menschen. Sie blühen auf und kommen aus sich heraus“, ergänzt Katja und schaut Tatjana stolz an.
Aus den jährlich erscheinenden Statistiken der Aktion Mensch und der Bundesagentur für Arbeit gehen hervor, dass die Anzahl von Beschäftigungen von Menschen mit Behinderung im allgemeinen Arbeitsmarkt 2023 zurückgegangen ist. Dabei gibt es Maßnahmen zur Beschäftigungspflicht und Förderungen, die eine Begleitung am direkten Arbeitsplatz ermöglichen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes führt Vorurteile, Informations- und Wahrnehmungsdefizite als Grund auf.
Liebe, Herausforderung und Zusammenhalt
Die Pause verbringt Tatjana mit ihrem Freund auf der Terrasse. „Das ist mein Freund Manu.“ Manuel arbeitet in der Backstube und ist ein eher schüchterner Typ. Man hört nur ein kleines „Hallo“. Sie erzählen, dass sie sich bereits in der Schule kennengelernt, aber erst seit der gemeinsamen Arbeit im Café zueinander gefunden haben. „Ich habe ihm dann in der Schule gesagt, dass ich ihn gern hab und seitdem sind wir ein Paar“. Während ihrer Erzählung schauen sie sich immer wieder glücklich in die Augen. Auch ein, zwei Küsse sind dabei. Obwohl es an diesem Morgen eiskalt ist, scheint es so, als ob ihre Liebe sie mit Wärme erfüllt.
Nach der Pause geht es zurück an die Arbeit. Das Geschäft ist voll mit Kundschaft, alle Tische belegt, gleichzeitig müssen Plätzchen verpackt werden. Tatjana bereitet eine Bestellung vor. Sie wirkt angespannt, aber konzentriert. Mithilfe von Anweisungen und Bildern bereitet sie das bestellte Frühstück vor. Auffallend ist Tatjanas positives Verhältnis zum Team: Immer witzelnd, freudig, aufheiternd. Alle witzeln miteinander, nehmen Rücksicht und helfen einander. Generell scheint Tatjana hier sehr beliebt zu sein. Vom Team, über die Kundschaft bis hin zu den tierischen Gästen: Zwei Hunde, die sich schwanzwedelnd über ihre Aufmerksamkeit freuen. Mit den Gästen wechselt sie ein paar nette Worte. „Sie ist immer so fröhlich, man kann sich gut mit ihr unterhalten. Da freut man sich herzukommen. Das ist heutzutage nicht mehr selbstverständlich“, meint ein älteres Ehepaar.
Tatjana ist angekommen. Zukunftspläne hat sie keine – Alles was sie wollte, hat sie sich erarbeitet. Ihr Wunsch: „Menschen sollten netter zueinander sein und Verständnis für die Situation von anderen haben.“ Ihre Kollegin Martina ergänzt: „Miteinander, nicht gegeneinander.“