Ali, Sonnenschein
Eigentlich stünde ich heute nicht hier, sagt er und seine Augen ruhen für einen Moment auf einem Punkt, ganz weit hinten im Lagerraum. Für einen Augenblick findet man kein Lächeln auf seinen Lippen. Dann gibt er sich einen Ruck und läuft auf die Wägen in der Ecke des Lagers zu. Es bleibt einer der wenigen Momente, an denen Alisan Sögüt an diesem Tag nicht lächelt und mit einem kecken Spruch auf den Lippen durch den Laden läuft. In der Ecke angekommen löst er die gußeisernen Sicherungsketten an einem Trolley für Lebensmittel, zieht ihn langsam aus der Reihe mit den anderen und schiebt den blauen Wagen dann mit der Kraft seines rechten Arms durch das Lager. Er hat sich wieder gefangen. Langsam und konzentriert schweift sein Blick über das gefüllte Lager mit den zwei weißen Kühlräumen. Ali, „unser Sonnenschein”, wie ihn die Kollegen liebevoll nennen ist wieder zurück.
Kaltweiße Lampen erhellen die Kisten, die plastikverpackten und eingeschweißten Schätze des Einzelhandels. An der hellen Wand des Lagers kommt noch genügend Licht an, dass blau-graue Kratzer da zu sehen sind, wo jahrelang und Tag für Tag die blauen Käfigwagen auf ihrem Weg zum Lastenaufzug vorbeikamen. Dann macht Ali Halt. Der blaue Käfigwagen bleibt heute unten im Lager. Seine Ladung heute – mehrere Paletten von Energydrinks – müssen in einen kleineren Einkaufswagen verladen werden, damit Ali und seine Energydrinks im Laden dann niemandem im Weg stehen. Also greift er zu, beherzt, mit seiner rechten Hand. Er hievt die Paletten mit einem Ruck aus dem größeren Wagen in den wendigeren, kleineren Wagen, der vor ihm steht. Eine nach der anderen, ordentlich gestapelt natürlich. Sein linker Arm bleibt dabei ohne Einsatz. Er hängt, fast in einem perfekten 90-Grad-Winkel seitlich neben seinem Körper. Die Finger der linken Hand sind leicht gekrümmt, als wäre er im Begriff, die Hand zu einer Faust zu ballen. Doch die Finger sowie der ihnen zugehörige linke Arm bleiben in ihrer starren Position – für immer. Als kleines Kind, im Alter von etwa neun Monaten infizierte sich Ali mit der Krankheit Kinderlähmung. Als Folge dieser Krankheit ist Alis linker Arm vollkommen und sein linkes Bein teilweise gelähmt.
Es ist noch einmal heiß geworden im Stuttgarter Spätsommer. Und natürlich ist das ein Lieblingsthema der Smalltalk-führenden Nachbarn, die sich im Verkaufsraum des CAP-Supermarkts treffen. Vier Stufen und zwei automatische Schiebetüren halten diese Hitze aber mehr oder weniger erfolgreich draußen auf den Straßen. Im angenehm klimatisierten Laden treffen sich die Leute aus dem Stuttgarter Westen, ob sie wollen oder nicht. Nach dem Feierabend schieben sie sich langsam im engen Kreisverkehr rund um die Obst- und Gemüseabteilung, in der aber auch das Olivenöl und die Saucen stehen.
Und während die Kunden im Laden so tun, als würden sie ihre Nachbarn nicht erkennen, erkennt sie spätestens an der Kasse dann doch jemand: Ali. Der 51-jährige Deutsche mit türkischen Wurzeln kennt fast jeden, der hier durch die Glastüren ein- und ausgeht. Auch wenn selten ein Name ausgetauscht wird, unterhält sich die Kundschaft ausgiebig mit Ali über vergangene oder geplante Urlaube, über Gott und die Welt. Blöd nur, dass Ali meist allein an der Kasse sitzt. Doch diejenigen die Alis Supermarkt ansteuern sind sich der Tatsache bewusst, dass es hier ein wenig anders zugeht. Oft stehen sie hier in der Schlange im Supermarkt und wollen nach einem langen Arbeitstag nur noch nach Hause. Und doch macht es ihnen so gar nichts aus, dass der Kassierer an der Kasse ein wenig länger braucht als seine Kollegen in anderen Läden. Man wartet also brav, bis der gut gelaunte Mann im gelben Hemd das Gespräch mit dem Kunden vor sich beendet hat. Dann ist man selbst an der Reihe.
„Na? – Alles gut bei dir?“ –piep– Soweit ja, und selbst? –piep– „Ach ja, kann nicht klagen“
–piep– Wie war der Urlaub? „Wunderschön, du… Schweden ist einfach wunderschön!“ –piep– Oh ja… Malmö ist mir damals sehr gut in Erinnerung geblieben –piep– Mit Handy? –piep– „Nee, heute mal Bar, kann ich mit dem hier bezahlen?“ –piep– Ach, das kriegen wir schon hin. Zwölf fünfundachtzig sind‘s. Hundert gegeben, dann kriegste achtundsiebzig Euro fünfzehn zurück. Schau mal, von jeder Farbe eins. Mach‘s gut, gell – tschau!
Bei CAP-Supermärkten besteht das Team bis zu 50 Prozent aus Menschen mit Behinderungen. Diese erhalten die Möglichkeit, im Laden, im Lager oder an der Kasse Tätigkeiten nachzugehen, die genau auf ihre jeweiligen Fähigkeiten abgestimmt sind. So wird keiner über- oder unterfordert und kann einer sinnvollen Arbeit nachgehen. Das ist wichtig, da heute noch viele Menschen mit Behinderungen eine Beschäftigung nur in sogenannten Werkstätten finden. Das System der Werkstätten soll eigentlich inklusiv sein, bietet ihren Arbeitenden jedoch selten mehr als wenige hundert Euro im Monat, eine monotone Arbeit und isoliert Menschen mit Behinderungen zunehmend, kritisieren Experten.
Oft arbeiten im CAP-Supermarkt auch Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keine große Chance auf eine Anstellung haben, oder die lange arbeitssuchend waren. Der erste Arbeitsmarkt beschreibt dabei den gewöhnlichen Arbeitsmarkt, bei dem keine Maßnahmen oder Zuschüsse Dritter vorhanden sind, um zum Beispiel Personen mit körperlichen Behinderungen einzubinden.
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Nach 13 Jahren im Laden kenne man sich ganz gut. Ali blickt kurz hinter sich, ob Kundschaft kommt, dann erzählt er, er hätte mehr als acht Jahre lang keinen Job gehabt. Bei seinem alten Job in einem Kaufhaus habe er damals aus verschiedensten Gründen aufgehört. Er vermisse aber nichts, die Personalchefin sei nicht besonders nett gewesen. Zu seinem zehnjährigen Jubiläum habe sie ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn gerne schon länger loswerden wolle, es aber wegen Alis besonderem Status als Schwerbehinderter nicht einfach so könne. Von dieser Begegnung erzählt er auch heute noch fassungslos. Doch verstehe er ja auch die Situation der ehemaligen Chefin, es ginge immer nur ums Geld, fügt er noch hinzu.
Dann verlässt er die Kasse kurz, um die Kühlschränke in seiner Nähe aufzufüllen. Sie sind bei diesen Temperaturen natürlich besonders gefragt. Er lacht kurz auf. Ali greift sich eine Palette der weißen Energydrinks, die er eben im Lager auf seinen Wagen gehievt hatte und hält kurz inne. Er informiere sich viel über Politik und Wirtschaft, beginnt er. Dann greift er um, legt die Palette nochmal ab auf dem Gitterwagen und kneift mit dem rechten Daumen und seinem Zeigefinger ein Loch in die Plastikverpackung der Palette, während er weiter über die Politik in Brüssel und Berlin spricht. Das, was die da in Brüssel machen, könne er nur selten nachvollziehen. Es gäbe immer noch zu wenig Druck auf Unternehmen auf dem ersten Arbeitsmarkt, mehr Personen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen einzustellen. Vielleicht würden ja Strafzahlungen in Millionenhöhe helfen, schlägt er halb scherzhaft vor. Dann füllt er seine Kühlschränke schweigend bis zur letzten Dose auf, setzt sich zurück auf den Stuhl in der Kasseninsel und begrüßt mit einem Nicken und einem lauten „Hallo“ freundlich neue Kundschaft, die den Laden betritt.
Als Kind alevitischer Eltern in der heutigen Türkei geboren verbrachte Ali nur wenig Zeit in seiner Geburtsstadt. Schon wenige Monate nach seiner Geburt infizierte er sich mit der Kinderlähmung. Wahrscheinlich habe er sich beim Kinderarzt mit einer Spritze angesteckt, die schon bei anderen Kindern benutzt worden sei, erzählt er. Genau nachprüfen lässt sich das heute aber nicht mehr. Mit der Infektion kam schnell ein sehr hohes Fieber und starker Durchfall. Alis Körper wurde sehr schwach. Sein Onkel brachte ihn zu den Ärzten in der Nähe, doch die medizinische Versorgung im sehr ländlichen Anatolien war mangelhaft, die Familie nicht sehr wohlhabend. Die wenigen Ärzte in der Nähe seines Heimatdorfes, die sich seine Eltern leisten konnten, seien nicht die besten gewesen. Die Ärzte verwiesen Alis Mutter auf eine Behandlung im Ausland. Die USA oder Deutschland, das wären die einzigen Optionen gewesen.
Die Krankheit der Kinderlähmung (auch: Poliomyelitis) wird durch das Poliovirus verursacht und verläuft bei einer großen Mehrzahl der Infizierten ohne jeglichen Krankheitszeichen. Befällt das Poliovirus jedoch das zentrale Nervensystem, kommt es bei etwa einem Prozent der Betroffenen zu einer Paralytischen Poliomyelitis. Wie der Name bereits vermuten lässt, erlahmen bei diese Form einzelne Muskeln. Betroffen sind dabei häufig die Arm-, Bauch-, Brust- oder Augenmuskeln. Da das Poliovirus bis in die 1960er Jahre weltweit stark verbreitet war, steckten sich viele schon im Kindesalter an. Daher kommt der Begriff der „Kinderlähmung”. Heute ist das Poliovirus weltweit mithilfe von Impfungen stark eingedämmt: 2021 zählte die WHO nur noch sechs Fälle weltweit.
Weil Alis Vater zu der Zeit bereits als Gastarbeiter in Süddeutschland arbeitete, holt er das schwer kranke Kind zu sich. Dort versprach sich Alis Familie die beste Versorgung ihres Jungen. Doch auch die Ärzt*innen in Tübingen konnten die bereits erlittenen Schäden durch das über Tage anhaltende hohe Fieber in Alis Hirn nicht mehr wettmachen. So versetzte man Ali im Tübinger Kinderkrankenhaus mit gerade einem halben Jahr in ein mehrmonatiges künstliches Koma. Das Fieber sank schnell, aber die Schäden konnten lediglich minimiert werden. Als die Ärzt*innen Ali wieder aus dem Koma erwachen ließen, war ein Teil seines Hirns durch das Fieber derart verbrannt, dass er seitdem nur noch eine eingeschränkte Lernfähigkeit besitzt. Die Ärzte hatten wohl mehr Erfolge erwartet, sagt Ali ernst. Aber sie hätten ihm auch dazu verholfen, diese Krankheit überhaupt zu überleben, fügt er hinzu. Sein Können in der Mathematik wäre das eines Viertklässlers, sagt er. Die größte Einschränkung hat er aber wohl durch den Verlust der Kontrolle über seine linke Körperhälfte. Ali lebt schon sehr lange mit diesen Einschränkungen, vielen Leuten musste er diese Geschichte schon erzählen. Sein Blick ist angestrengt, die Augen leicht zusammengekniffen, wenn über diese Zeit nachdenkt. Trotzdem wirkt Ali gefasst, während er von dieser Zeit seines Lebens berichtet, er hat sich mit seinem Schicksal schon lange angefreundet. Ali kommt sehr gut klar damit, nur noch auf die Hilfe von einem Arm zählen zu können.
Sein Blick wird weicher und die Augen weiten sich wieder, wenn Ali über die Reisen spricht, die er schon gemacht hat. Sein Lächeln kommt jetzt wieder mehr zum Vorschein und seine Augen vermitteln den Stolz, den er spüren muss, wenn er über seine Reisen spricht. Er war schon in Island und Finnland, erzählt er. Aber auch Deutschland habe er ausführlich bereist. Etwa zehn bis zwölf Städte pro Bundesland seien das gewesen, sagt er. Die Vielfalt der verschiedenen Städte sei ihm dabei besonders aufgefallen. Und wenn er einmal in einer Stadt gewesen ist, dann wartet er ein paar Jahre und besucht sie danach oft wieder, erklärt er. Um zu schauen, was sich so verändert hat. In die Ferne habe es ihn dabei aber nie gezogen. Er sei der Meinung, es gäbe so viel Interessantes allein in den Nachbarländern Europas zu entdecken, da brauche er dann gar nicht nach Mexiko oder in die USA reisen.
Doch bis zur nächsten Reise muss Ali erst einmal wieder arbeiten. An bis zu acht Stunden pro Tag begrüßt er die Kundschaft, räumt Kühlschränke ein und strahlt voller Zuversicht über sein ganzes Gesicht. Ali, Sonnenschein ist ein fester Bestandteil des Supermarkts im Stuttgarter Westen, nicht nur für seine Kollegen. Auch die Kunden würden ihn vermissen, wenn sie durch die zwei automatischen Schiebetüren ein- und ausgehen. Man stelle sich vor, da säße an der Kasse keiner, der ihnen mit einem humorvollen Spruch die Inhalte des Einkaufskorbs Stück für Stück abkassiert. Für die Menschen im Stuttgarter Westen ist der CAP-Supermarkt ein ganz normaler Teil ihres Alltags. Für die Mitarbeitenden jedoch, egal ob mit oder ohne Behinderungen ist der Supermarkt eine besondere Chance.