Auf dem Weg zum Buchladen habe ich Bauchschmerzen. Alle werden mich bestimmt für dumm halten. Ich bin im zweiten Stock und gehe mit einem Buch in der Hand zur Kasse. „Hi, kann ich mir dieses Buch ausleihen? Ich bringe es auch wieder zurück“, frage ich mit voller Überzeugung. „Ausleihen?“ Ein verdutzter Blick „Ähm, wir sind ja keine Bibliothek“, antwortet der Kassierer.
Eigentlich war es nicht der Plan gewesen, mich zehn Tage lang täglich zu blamieren. Ursprünglich wollte ich eine Reportage über Türsteher*innen schreiben, doch ich habe, als ich von Club zu Club ging, nur Absagen bekommen. Die Abweisungen, mal sachlich oder verständnisvoll, mal genervt und herablassend, haben mich tief getroffen. Aber wieso? Es ist ihr gutes Recht gewesen, mir „Nein“ zu sagen, es ist mein Problem, es persönlich zu nehmen. Und damit bin ich nicht alleine. Ob es nun eine moderne Krankheit ist oder doch eine evolutionär bedingte Angst dahintersteckt – die Sorge vor sozialer Zurückweisung begleitet viele.
Um sich von dieser Angst zu desensibilisieren, entwickelte der Kanadier Jason Comely ein Spiel, bei dem man sich 30 Tage lang bewusst Situationen aussetzt, in denen man abgewiesen wird. Die Challenge ging 2012 viral durch den US-amerikanischen Unternehmer Jia Jiang, der sie 100 Tage lang machte. Jiang leitet inzwischen auch die Website und verspricht neben der Desensibilisierung auch die Gewinnung einer positiven Einstellung zu sich selbst und der Menschheit. Ich möchte herausfinden, ob diese Versprechen wahr werden. Auf der Website stehen die 100 Herausforderungen von Jia Jiang aufgelistet. Ich suche mir 10 davon aus und starte mein Selbstexperiment.
Opfersuche auf der Königsstraße
Der erste Punkt auf der Liste ist „Leihe dir 100 Euro von einer fremden Person“.
Eine Gruppe Jugendlicher. Nein. Mutter mit Kinderwagen. Nein. Ich wechsle zu einer weniger belebten Straße. Händchenhaltendes Pärchen, das mir entgegenläuft. Jetzt oder nie. „Hallo, kann ich mir von jemandem von euch zufällig 100 Euro leihen?“. Die Frau mustert mich von unten bis oben und sagt „Ne“, der Mann lacht. So schlimm war es nicht und doch hat es mich viel Überwindung gekostet. Doch bei so einer Frage muss dem Gegenüber ja schon fast klar sein, dass ich es nicht ernst meinen kann. Das nächste Mal muss es etwas sein, das nicht so offensichtlich ist.
Ich gehe zu Subway, um zu fragen, ob ich mir mein eigenes Sandwich hinter der Theke machen kann. Vor dem Imbiss ist eine Schlange, lieber noch ein bisschen herumlaufen und später vorbeisehen. Nach 15 Minuten sieht es nicht besser aus. Ich stelle mich trotzdem an. Als meine Bestellung dran ist, sind Leute sowohl vor als auch hinter mir. Ich murmle vor mich hin, der Mann hinter der Theke versteht mich nicht. Ich laufe rot an und wiederhole mich. Diesmal lauter.
Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat herausgefunden, dass viele Personen besorgt darüber sind, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Vor allem in Bezug auf Intelligenz und dem Wunsch, nicht als belastend empfunden zu werden.
Ich fühle mich dumm. Die Person, mit der ich spreche, muss denken, ich bin dumm. Genauso wie die Menschen vor und hinter mir. Der Mann hinter der Theke erklärt mit einem gezwungenen Lächeln, dass es leider nicht geht. Die zwei Minuten, die ich dort noch stehen muss, fühlen sich schrecklich lange an.
Die Urangst vor dem Nein
Die Mutproben selbst sind schnell erledigt. Im Nachhinein kann man immer darüber lachen und hat eine lustige Geschichte, um sie seinen Freund*innen zu erzählen. Das eigentliche Problem ist der Moment davor. Das Bereitmachen, das Zögern, der innere Widerstand. Und das, obwohl die Angst total irrational ist. Ich will doch abgewiesen werden, das ist das Ziel. Trotzdem habe ich Bauchschmerzen und ein unwohles Gefühl.
Damals war das Überleben stark davon abhängig, ob man Teil einer Gruppe war. Einzelgänger hatten geringere Chancen, Nahrung zu finden und sich vor Gefahren zu schützen. Ausgeschlossen zu werden galt daher als lebensbedrohlich. Auch wenn es heute nicht mehr so gefährlich ist, hat unser Gehirn diese Urangst beibehalten. Und mehr noch: Forschungen der Universität Michigan haben ergeben, dass soziale Ablehnung die gleichen Regionen im Gehirn aktiviert wie körperlicher Schmerz. Für unser Gehirn macht es also keinen Unterschied, ob uns jemand ein gemeines Nein um die Ohren haut oder mit voller Wucht auf den Fuß tritt.
Wer lehnt wen ab?
Während meines Experiments fällt mir auf, dass die Angst vor Ablehnung auch von der anderen Seite kommen kann. Hinter dem Tresen von einem Donut-Laden steht ein junger Mann. Ich habe gerade gefragt, ob es möglich ist, Donuts in Form des Logos der Olympischen Spiele zu bekommen. Er entschuldigt sich. Dann nochmal. Und nochmal. Irgendwann frage ich mich, wem diese Situation wohl unangenehmer ist. Schließlich schlägt er einen Kompromiss vor: Er verkauft mir die Donuts in den passenden Farben, und ich könne sie selbst schneiden und ineinander verflechten. Auch bei ihm kam der Instinkt, gefällig sein zu wollen. Neben den Menschen, die Angst davor haben, dumme Fragen zu stellen oder aufdringlich zu sein, gibt es auch diejenigen, die ungern ein „Nein“ äußern. Oft aus der Sorge, dass sie dadurch weniger gemocht werden könnten.
Ein unerwartetes Ja
Aber nicht immer gab es Absagen. Mit einer Hyazinthe in der Hand klingle ich an einem Haus. Ein kleines Kind macht mir auf. „Hallo, ist deine Mama da?“. Eine Frau kommt raus.
Ich brauche eine Notlüge. „Ich habe keinen Garten und möchte die“ - ich hebe die Hyazinthe hoch - „gerne einpflanzen“. Es folgt ein zögerliches und fragendes „Okay“. Jetzt muss ich das auch durchziehen, denke ich mir. „Ist hier okay?“, sie nickt. Vorbereitet bin ich nicht, ich versuche mit meinen Händen ein Loch zu graben. Sie schaut mir über die Schulter. „Brauchst du eine Schaufel?“ „Wenn du eine hast, nehme ich sie gerne“. Sie verschwindet und reicht mir kurz darauf eine. Während ich weitermache, löst sie ihren Blick nicht. Schweigen, bis sie es bricht. „Wohnst du hier in der Nähe?“ Sie beginnt mich mit Fragen zu löchern. Bis zu welchem Grad darf ich lügen? Ich beeile mich, um der Situation zu entkommen.
Und auch eine Supermarkttour habe ich bekommen, obwohl diese nun wirklich nicht nötig war. Riesige Schilder mit Beschriftungen der Gänge schmücken die Halle. Trotzdem werde ich von der lächelnden Mitarbeiterin zuerst durch die Getränkeschränke geführt, dann zum Hauptgang mit allen Drogerieprodukten auf der linken und den Nicht-Kühlprodukten auf der rechten Seite, zum Obst und Gemüse, der Tchibo-Ecke, dem Kühlregal und der Tiefkühlabteilung. Während der ernst genommenen Führung denke ich noch, dass es ja auch irgendwo ihr Job ist, Kunden zu erklären, wo sich die Produkte befinden. Allerdings bei so einer allgemeinen gestellten Frage nach einer Tour hatte ich eher mit einem „Schauen Sie mal nach oben, die Regale sind beschriftet“ gerechnet. Zum Schluss bedanke ich mich und sie erwidert mit strahlenden Augen „Nichts zu danken, habe ich gerne gemacht“.
Der Blick dahinter
Bei meinen restlichen Herausforderungen bekomme ich Absagen. Mittlerweile habe ich schon eine Strategie erstellt und rede mir auf dem Weg Ruhe ein und wiederhole die Tatsache, dass ein „Nein“ genau das ist, was ich möchte. Die Menschen sehen mich wahrscheinlich sowieso nicht mehr und es ist ja eigentlich auch egal, was sie von mir denken. Trotzdem bin ich mir am Ende meines Experiments unsicher, ob mir wirklich die Angst vor Abweisung genommen wurde.
Ich frage Psychologin Marzena Renschler, was sie von der Methode hält. Sie erklärt, dass die Rejection Therapy im Grunde eine Form der bewussten Selbstkonfrontation ist – ähnlich wie die Expositionstherapie, die in der Verhaltenstherapie genutzt wird. „Regelmäßige Konfrontation kann helfen“, meint Renschler, „aber ohne bewusste Verarbeitung könnte das Risiko bestehen, dass die Angst einfach unterdrückt oder ignoriert wird und sich möglicherweise bei etwas anderem zeigt. In der Gestalttherapie wäre es wichtiger, nicht nur die Ablehnung auszuhalten, sondern sie bewusst zu erleben, zu verarbeiten und zu transformieren.“
Die Ansätze sind also da, aber ohne eigene Reflexion und ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen bleibt die Rejection Therapy nur eine Aneinanderreihung unangenehmer Erlebnisse. Denn es geht nicht darum, sich einfach nur abweisen zu lassen – sondern darum, zu verstehen, warum diese Angst so tief sitzt und wie man mit ihr umgehen kann. Ob meine Angst vor Ablehnung nun tatsächlich verschwunden ist? Vielleicht nicht ganz. Aber ich habe gelernt, dass ein „Nein“ oft weniger schlimm ist, als es sich in meinem Kopf anfühlt.