Sexualisierung

Sexualisierte Gewalt mit System

Rape Culture betrifft uns alle.
21. Jan. 2023
Von hundert Frauen, die Opfer sexualisierter Gewalt wurden, erstatten nur 15 Prozent eine Anzeige – sexuelle Übergriffe werden oft von der Gesellschaft verharmlost. Welches System steckt dahinter und wie normalisiert Rape Culture misogyne Straftaten?

Clara C.* war 14 Jahre alt. Beim Bahnfahren wurde sie von einem schätzungsweise über 20 Jahre alten Mann nach ihrer Handynummer gefragt. Nach einiger Zeit fing der Mann damit an, ihr unaufgefordert Nacktfotos von sich zu senden. Clara C. bat ihn mehrmals darum, das Ganze sein zu lassen, da es sie sehr belastete. Die einzige Antwort, die sie darauf bekam war, dass sie sich nicht so anstellen solle, zu kindisch sei und es überhaupt nicht schlimm sei, solche Fotos zu verschicken. Dieser sexuelle Übergriff ist klarer Fall von Rape Culture, doch was ist das eigentlich? 

Unter Rape Culture versteht man ein gesellschaftliches Klima, in dem viele Formen sexualisierter Gewalt normalisiert, akzeptiert und toleriert – oder zumindest nicht thematisiert – werden. Dabei geht es vor allem um Faktoren wie falsche Schuldzuweisung an die Opfer oder Vergewaltigungswitze, die die Normalisierung sexualisierter Gewalt unterstüzen.

Auch Christine Künzel, Privatdozentin an der Universität Hamburg, beschäftigt sich mit Rape Culture und der Darstellung sexualisierter Gewalt in der Literatur. Mitte der 90er Jahre war sie „teaching assistant“ an der Johns Hopkins University in Maryland, USA.

Laut Künzel kommen Fälle von Rape Culture am häufigsten an Universitäten in den USA vor. Spätestens 1986 sei die Debatte um Rape Culture durch die USA relevant geworden, als eine Studentin von einem Kommilitonen vergewaltigt und ermordet worden sei, erzählt sie. Dort gebe es sogenannte „Campus Universities“, in denen Student*innen nicht nur studieren, sondern auch leben würden. „Vorfälle auf dem Campus sind eigentlich vorprogrammiert“, meint Künzel. 

Nur ja heißt ja.

 

Christine Künzel, Expertin für sexualisierte Gewalt

Aber: Nach Künzel könne Rape Culture auch mit einer unerwünschten, nicht sexuellen Berührung anfangen und im schlimmsten Fall in einer Vergewaltigung enden. Dann hätte die Regel „Nur ja heißt ja.“ keine Bedeutung mehr. Wichtiger Teil von Rape Culture sei das sogenannte „victim blaming“, also eine falsche Schuldzuweisung. Die Verantwortung für Fehlinterpretationen von Signalen werde den Opfern angelastet, erklärt Künzel.  „Ihnen wird unterstellt, eine Einladung auszusenden und sich ambivalent zu verhalten, dazu gehört auch Kleidung, die als Einladung gilt.“

Toleranz und Normalisierung der untersten Verhaltensweisen unterstützt und entschuldigt Verhaltensweisen, die weiter oben stehen.

Normalisierung von frauenfeindlichen Straftaten 

Auch die Musikszene spiele beim Thema Rape Culture eine wichtige Rolle. Laut Künzel normalisieren viele Künstler – vor allem Rapper – in ihren Songs sexualisierte Gewalt, verbreiten Vergewaltigungsmythen und verharmlosen Ideologien: „Musik sollte man nicht unterschätzen, das sind teilweise Verherrlichungen massiver sexualisierter Gewalt.“ Es gebe aber auch noch andere Faktoren, die Rape Culture unterstützen. Zum einen seien es Vergewaltigungsmythen, die immer wieder Urteile zu sexuellen Übergriffen beeinflussen würden. Zum anderen seien es gesellschaftliche Faktoren, wie homophobes Denken oder Rassismus, die Rape Culture bestärken, erklärt Künzel.

Durch die Normalisierung sexualisierter Gewalt sei die Bereitschaft bei Opfern, sich einen Anteil der Schuld selbst zuzuweisen, sehr hoch. „Die Opfer sind es gewohnt, die Schuld erst einmal bei sich selbst zu suchen: Habe ich sie*ihn ermutigt? Habe ich mich falsch verhalten? Konnte sie*er meine Signale nicht richtig deuten?“, so Künzel.

Maßnahmen gegen Rape Culture  

Künzel findet, dass der erste Ansatz in der Bildung liegen sollte: „Es sollte schon in der Grundschule – und spätestens bis zur Pubertät – damit anfangen, zum Beispiel durch Darstellungsformen wie Theaterstücke, klarzumachen, dass sexualisierte Gewalt nicht normal ist!“. Rape Culture sei nicht nur in Einzelfällen zu betrachten, sondern sollte als gesamtgesellschaftliches Problem gesehen werden. Nur so gebe es eine Möglichkeit zu verhindern, dass sowohl Männer als auch Frauen überhaupt in solch eine Situation geraten. Außerdem könne sich Deutschland ein Vorbild an Schweden nehmen. Dies sei das erste Land, in dem eine explizite Einwilligung für sexuelle Handlungen erforderlich sei. 

Das Beispiel von Clara C. zeigt sehr gut, wie schnell man Opfer von Rape Culture werden kann. In diesem Fall zeigt die Reaktion des Mannes, dass sexuelle Übergriffe von der Gesellschaft mittlerweile als so normal angesehen werden, dass ein „Nein“ oft schon gar keine Bedeutung mehr hat. Der Mann hätte komplett anders reagieren sollen. Vor allem nachdem sie ihn bat, damit aufzuhören, da sie sich unwohl fühlte.

*Der Name des Opfers wurde aus persönlichen Gründen geändert, Identität ist der Redaktion bekannt.