Das Maß an Selbstwert bestimmt letztendlich das Maß an Schamgefühl. Je selbstbewusster jemand ist, umso besser kann mit dem Schamgefühl umgangen werden.
Scham: Eine tabuisierte Emotion
Manchmal schäme ich mich für mich selbst. Nicht unbedingt aus dem Grund heraus, dass ich Angst habe, was andere Menschen über mich denken könnten. Die Scham, die ich empfinde, beruht darauf, wie ich mit mir selbst umgehe: Ich rede mich schlecht, denke ich bin nicht gut genug, fühle mich wertlos. Ich schäme mich, dass ich mich selbst so behandle.
Manchmal schäme ich mich für mein Verhalten oder Gesagtes. Dann frage ich mich warum habe ich das bloß nur ausgesprochen oder warum habe ich das getan? Fauxpas passieren mir aber ständig, da ich leider ein richtiger Tollpatsch bin. Ich schäme mich, weil ich dann nicht so gesehen werde wie ich sein möchte.
Manchmal schäme ich mich für andere. Ich sitze in der Straßenbahn und beobachte Jugendliche dabei, wie sie asozial sprechen, sich beleidigen und herumschreien. Eine Oma sitzt direkt daneben. Ich schäme mich für die Jugendlichen, weil ich denke, dass sie bei der älteren Dame einen schlechten Eindruck von unserer Generation vermitteln. Ich schäme mich, für das Verhalten anderer, das ich nicht beeinflussen kann.
Ganz schön fies – diese Scham. Sie kann uns mit voller Wucht überkommen oder ein ständiger und ziemlich lästiger Begleiter sein. Wenn wir uns schämen, ist das alles andere als ein gutes Gefühl. So viel Scham wie heute war selten: Man schämt sich für sein Verhalten, eine Krankheit, den eigenen Körper, seine Sexualität und kommt dabei aus dem Schämen nicht mehr heraus. Scham ist eine Emotion, welche in unserer Gesellschaft tabuisiert wird. Denn über Scham zu sprechen ist schließlich beschämend. Aber warum? Wenn Scham doch eine kollektive Emotion ist.
Warum schämen wir uns?
Schäm dich! Niemand schämt sich gern und doch tun wir es alle ziemlich oft. Letztlich hat Scham immer mit der Angst vor Zugehörigkeitsverlust zu tun, denn Scham ist die Empfindung persönlicher Defizienz, Wertlosigkeit und Fehlerhaftigkeit. Wir alle haben ein Idealbild in unserem Kopf, wie wir von außen wahrgenommen werden wollen. In einer Situation, in der wir uns schämen, können wir diesem Bild nicht mehr entsprechen was zu negativen Gefühlen führt. Nacktheit allein im Bad löst meistens keine Scham aus, Nacktheit in der Öffentlichkeit bei den meisten sehr wohl. Scham braucht immer ein Publikum, ist immer eine Entblößung vor anderen. Durch die realen oder vorgestellten Blicke der anderen verändert sich unsere Perspektive auf das eigene Tun und verzerrt auch unsere Selbstwahrnehmung.
Ein einschränkendes Gefühl
Um die Emotion Scham besser einzuordnen, habe ich mit der Sozialpädagogin und Psychotherapeutin Ingrid Schmid-Bergmann gesprochen. Zunächst einmal will ich wissen, warum wir überhaupt Scham empfinden. Laut Frau Schmid-Bergmann hat dies immer was mit unseren unbefriedigten Bedürfnissen zu tun. Oft wird dieses Gefühl schon in der frühen Kindheit ausgelöst, indem Schamgefühle nicht respektiert oder verharmlost werden. Der Umgang mit Scham in der Kindheit ist also prägend für uns und beeinflusst auch sehr stark unser heranwachsendes Selbstwertgefühl: „Das Maß an Selbstwert bestimmt letztendlich das Maß an Schamgefühl. Je selbstbewusster jemand ist, umso besser kann mit dem Schamgefühl umgangen werden.“
Bewusst oder unbewusst tun wir Menschen alles dafür, Scham zu vermeiden. Unsere Scham teilen wir anderen nicht mit. Scham kann jedoch unseres Verhalten auf eine sehr einschränkende Weise beeinflussen, dies bestätigt auch Frau Schmid-Bergmann: „Scham kann das Verhalten sehr stark beeinflussen. Man lebt eher ruhig, zurückgezogen. Hält sich in bestimmten, meist bekannten Kreisen auf in denen man sich sicher fühlt. Im Extremfall gehen Menschen gar nicht mehr aus dem Haus.“
Frau Schmid-Bergmann ist der Meinung, dass durch die Vorgaben in der Gesellschaft und Medien man glaubt so sein zu müssen wie dort vermittelt wird. Daraus folgt, dass alles andere schlecht und nicht konform ist, was wiederum abgewertet wird. „Deshalb redet man nicht über sich so wie man wirklich ist oder denkt und fühlt. Es entwickelt sich immer eine Form von Scham dadurch.“ – so Frau Schmid-Bergmann.
Befreiung von Scham
Um uns von dem Gefühl der Scham zu befreien, müssen wir nicht nur an unserem Selbstwertgefühl arbeiten. Wir müssen auch die Emotion enttabuisieren und dies kann nur gelingen, wenn wir anfangen, offener darüber zu sprechen. Dafür braucht es Mut und die Bereitschaft der Selbstoffenbarung. Es wird Zeit Scham neu zu denken – Scham überhaupt zu denken!