„Der Winkel als Türklinke war geöffnet, auch als symbolische Öffnung der Gesellschaft gegenüber."
Die queere Clubszene im Wandel
Die Menschen stehen Schlange bis zur Straßenbahnhaltestelle, der „rosa Winkel” glänzt an der Türklinke. Es ist der 30. Juli 1983, als das „Café Jenseitz” zum ersten Mal seine Pforten öffnet. An diesem Tag verändert sich Vieles für die LGBTQIA+-Szene in Stuttgart, denn das „Jenseitz” ist das erste öffentlich queere Café und Bar seiner Zeit. Doch bis dahin war es ein langer Weg.
Verfolgung und Unterdrückung
Im Nationalsozialismus waren insbesondere Schwule in ständiger Gefahr, verfolgt und deportiert zu werden. Über 50.000 Schwule wurden von der NS-Justiz verurteilt, 10.000 bis 15.000 Männer wurden in Konzentrationslagern interniert. Die entsprechenden KZ-Häftlinge kennzeichnete man dann mit dem „rosa Winkel”, einem rosafarbenen, nach unten gerichteten Dreieck. Offene Treffen gab es keine. „Es hat alles sehr im Geheimen stattgefunden und immer mit der Angst, entdeckt zu werden”, so Helena Gand, ehemalige Kuratorin am Landesmuseum Württemberg.
Nach der NS-Zeit habe sich die Situation für queere Menschen erstmal so gehalten, denn Homosexualität war nach Paragraph 175 im Strafgesetzbuch immer noch illegal. Nur langsam habe die Szene begonnen, heimlich Kontakt aufzunehmen. Über Zeitschriften wurden geheime Nachrichten ausgetauscht und Verabredungen an öffentlichen Orten getroffen. Eine Gruppe namens „Die Runde” habe sich beispielsweise in einem Biergarten getroffen. Doch von außen sei niemals sichtbar gewesen, dass es sich hierbei um homosexuelle Treffen handelte. Sich öffentlich in queeren Bars und Clubs zu treffen, war noch bis Ende der 60er-Jahre unvorstellbar.
Die ersten Schritte
Erst 1969 wurde Homosexualität in Deutschland legalisiert. Die ersten bekannten Treffpunkte waren ebenfalls nicht öffentlich, sondern sogenannte „Hinterzimmer”. So auch der „Kings Club”, der 1977 eröffnete. Walter Kurz, der ab 1975 in der Stuttgarter Schwulenbewegung und bis 1994 Geschäftsführer des Cafés „Jenseitz” war, beschreibt die damalige Situation so: „Da gab es dann eine massive Holztür, wo du klingeln musstest. Es ging oben in der Tür eine Luke auf und es wurde gecheckt, ob du auch wirklich schwul bist. Dann durftest du erst rein.”
In den darauffolgenden Jahren seien die Öffnungen gegenüber der Szene dann immer stärker geworden, erklärt Gand. Durch den Aktivismus der 70er und 80er Jahre und Parteien wie den Grünen, die das Thema in die Politik trugen, sei es immer mehr in die politische und gesellschaftliche Öffentlichkeit gelangt. So konnten in dieser Zeit mehrere queere Treffen auf der Königstraße und schlussendlich auch die erste Demo im Jahr 1979 stattfinden.
Das „Café Jenseitz” war bis zur Schließung im Jahr 2003 eine Institution in der Stuttgarter Schwulenszene. Es stand mit seinen großen Glasfenstern symbolisch für Offenheit nach außen. Ganz nach den offen schwulen Clubs in Berlin, die den Betreiber*innen als Vorbild dienten. Und mit dem „rosa Winkel" als Türklinke wurde „das Motiv der Verfolgung in der NS-Zeit als Emanzipations-Motiv umgewandelt“, so Gand. Für Walter Kurz ein wichtiges Detail: „Der Winkel als Türklinke war geöffnet, auch als symbolische Öffnung der Gesellschaft gegenüber.”
Konflikte und Anfeindungen
In den 1980ern war die Situation nicht immer einfach. „Gerade in Stuttgart, wo die Gesellschaft jetzt auch nicht die offenste ist, gab es oft Anfeindungen und Schwierigkeiten”, sagt Gand. Des Öfteren haben Menschen die Straßenseite gewechselt oder die Fenster beschmiert. Sogar körperliche Angriffe kamen vor. Auch Thomas Ott, Bekannter von Walter Kurz und Inhaber des schwulen Buchladens „Erlkönig” neben dem „Café Jenseitz”, wurde Opfer von Gewalt durch Diskriminierung. Er wurde von einem psychisch kranken Mann mit einem Messer verletzt und lag daraufhin wochenlang im Koma.
Walter Kurz erinnert sich aber auch an die positiven Reaktionen der breiten Öffentlichkeit auf die Eröffnung des Cafés: „Unsere Vermieterin berichtete uns von einer Party, auf der sie wiederholt nach dem neuen schwulen Café in ihrem Haus gefragt wurde. Das war monatelang Gesprächsthema Nummer Eins. So viel Aufmerksamkeit hatten wir zuvor mit keiner anderen Aktion der schwulen Bewegung erregt.” Trotz einzelner Anfeindungen, bemerkte er auch eine Veränderung innerhalb der schwulen Szene: „Viele Schwule hatten ja solche Angst vor negativen Reaktionen, dass sie das „Wegducken” schon internalisiert hatten. Jetzt hatten sie eine eigene Domäne; Das Café. Wenn hier jemand Stunk machte, standen einfach drei Leute auf und fragten ihn, ob es ein Problem gebe.”
Die Aids-Welle der 1980er und 90er Jahre versetzte dieser Entwicklung allerdings einen kurzzeitigen Dämpfer. Da die Krankheit Schwulen zugeschrieben wurde, zog sich die Szene wieder mehr in die Anonymität zurück. Beim ,,Kings Club” wurde die Leuchtreklame entfernt. Viele Menschen hatten Angst, sich anzustecken. Allerdings ließen diese Vorurteile laut Walter Kurz wieder nach, nachdem sich vermehrt Heterosexuelle infizierten.
Ein Blick in die Zukunft
Während die Gesellschaft Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts immer offener wurde, öffnete sich auch die LGBTQIA+ Community immer mehr der Öffentlichkeit. Wie Helena Gand erklärt, kamen in dieser Zeit eine Reihe neuer, insbesondere lesbischer, Clubs und Bars hinzu. Während noch in den 80ern Lesben und Schwule relativ streng unterteilt waren, diversifizierte sich die Szene um die Jahrtausendwende immer mehr. Auch trans* Personen, die zuvor eher belächelt wurden, stiegen jetzt in die Partyszene mit ein.
Insgesamt bewerten Gand und Kurz die Situation heutzutage als viel toleranter, man müsse sich beim Feiern nicht mehr verstecken, die Möglichkeiten seien diverser. Da wären zum Beispiel die Lovepop-Partys mit dem Motto: „Queer, straight, whatever”. Gand sieht allerdings noch Verbesserungsmöglichkeiten: „Natürlich gibt es immer noch Anfeindungen und natürlich haben Menschen damit immer noch zu kämpfen. Ich glaube, dass die Gesellschaft da noch nicht so offen ist." Daher müsse vor allem in Sachen Sichtbarkeit und Aufklärung noch viel passieren, um aus dem Schatten des „rosa Winkels" herauszutreten.