„Man macht die Arbeit gerne, weil sie einem Sinn gibt“
Der graue Raum, in den buntes Licht über die Kirchenfenster eintritt, ist gefüllt von Stimmengewirr, Kaffeegeruch und Wärme. Es ist zehn Uhr morgens, und in der sonst eher leere Leonhardskirche in Stuttgart reihen viele lange Tische, an denen Stühle mit einem weichen Polster dicht aneinander stehen. An den Tischen sitzen die unterschiedlichsten Menschen zusammen. Einige halten ihre Hände um warme Kaffee- und Teebecher, andere unterhalten sich miteinander, lachen oder blicken schlicht vor sich hin. Wieder andere sind eingenickt. Die Atmosphäre ist gesellig, fast familiär – aber nicht jeder, der hier ist, hat ein Zuhause. Neben den Gästen schaut man auch in über 30 freundliche Gesichter der Helfenden der Vesperkirche, die zusammen in einem Kreis sitzen und aufmerksam zuhören, als das heutige Programm über ein Mikrofon erklärt wird. Die Gäste sind sehr vielfältig. Es sind viele ältere Menschen da, aber auch Suchtkranke oder Personen mit einem kleinen Geldbeutel. Während draußen eine eisige Februarkälte herrscht, gibt es in der Kirche eine Wärme, die nicht nur von den Heizungen kommt. Eine Frau mit einem pinken Schal, die zu Gast in der Vesperkirche ist, tritt ebenfalls vor und bedankt sich über das Mikrofon für den Einsatz der Helfenden. Auch Wolfgang, ein Rentner mit einem zufriedenen Lächeln, ist einer von ihnen und heute für die Essensausgabe zuständig.
Im Jahr 2022 nutzten rund 2 Millionen Menschen in Deutschland Angebote, wie die der Tafel oder der Vesperkirche, um günstig an Lebensmittel zu gelangen. Die Zahl ist seit 2020 rasant gestiegen, denn damals waren es noch 1,65 Millionen Menschen, die auf diese Hilfe angewiesen waren. Gründe weshalb solche Angebote genutzt werden, stehen vorrangig in Verbindung mit Armut. Während mehr als 60 Prozent der Nutzenden direkt von Armut bedroht sind, beziehen 75 Prozent Grundsicherung, da sie nicht erwerbstätig sind. Hierbei spielen auch gesundheitliche Beeinträchtigung eine große Rolle, da 32 Prozent keiner Arbeit nachgehen können, weil sie erwerbsgemindert oder schwerbehindert sind.
Die Vesperkirche ist eines dieser Angebote und findet sieben Wochen lang zwischen Januar und März statt. Jeden Tag kommen bis zu 800 Menschen mit der Möglichkeit, zwischen 10 und 15 Uhr einen Kaffee oder Tee zu trinken, eine warme Mahlzeit zu bekommen oder einfach nur in Gesellschaft zu sitzen und sich zu unterhalten. Außerdem werden verschiedene Angebote bereitgestellt, wie ärztliche Untersuchungen, Friseurbesuche, einen Tierarzt für die Tiere der Besucher und vieles mehr.
Vom Büro zum Ehrenamt
Wolfgang unterstützt die Vesperkirche ehrenamtlich nun schon das sechste Jahr in Folge. Vor seiner Rente war er Betriebsratsvorsitzender bei Daimler. Das Unternehmen spendete das Bußgeld, welches durch Falschparken der Mitarbeiter auf dem Parkplatz der Daimler-Zentrale zustande kam, an verschiedene soziale Organisationen. Teilweise sind dort zwischen 30 und 40 tausend Euro zusammengekommen, die irgendwann auch zum Teil an die Vesperkirche gegangen sind. Mitarbeiter des Unternehmens engagierten sich dadurch auch vor Ort, wodurch Wolfgang auch zu der ehrenamtlichen Tätigkeit gekommen ist.
Wolfgang beginnt seine Aufgaben damit, die ersten großen Metallbehälter, die mit Essen gefüllt sind in den Wagen zu stellen, in dem sie warm gehalten werden. Heute gibt es Käseknöpfle mit Rote Beete-Salat und für jeden Gast auch noch eine kleine Süßigkeit dazu. An anderen Tagen, wenn Fleisch oder Fisch serviert wird, können die Gäste allerdings auch eine vegatrische Mahlzeit wählen.
Ein Lächeln für jeden Gast
Ab 11:30 Uhr fängt die Essensausgabe an. Die Gäste können sich für einen Euro ein Märkchen holen und sich an einen beliebigen Platz setzen, an dem aus sie dann bedient werden. Auch wenn mal jemand den Euro nicht hat, kann unter Umständen ein Auge zugedrückt werden. Es ist wichtig, dass jeder Helfende im Service immer nur einen Teller auf sein Tablett legt und jeden Gast einzeln bedient, um den Gästen Wertschätzung und individuellen Respekt entgegenzubringen. Wolfgang erklärt vor allem den anderen Helfenden, wie sie das Essen ausgeben sollen, und holt immer wieder einen neuen, großen Metallbehälter mit Essen. Das ist wichtig, da jeden Tag ungefähr 430 bis 500 große Portionen ausgegeben werden. Trotz des schnellen Ablaufs bleibt er geduldig und ruhig. Er macht die Arbeit gerne, weil er das Gefühl hat, etwas Sinnvolles zu tun, das den Menschen guttut und ihnen hilft. Neben dem Service gibt es auch eine To-go-Station, bei der sich die Besucher etwas zum Mitnehmen holen können. Wolfgang begegnet den Leuten dort direkt und hat manchmal auch Zeit für ein paar kurze Worte. Er denkt immer daran, ihnen noch eine kleine Süßigkeit in die Tüte zu legen, und läuft noch einmal schnell zurück, wenn jemand sie vergessen haben sollte. Ein älterer Mann mit dicker Winterjacke und Mütze, der sich seine To-go-Box geholt hat, dreht sich beim Weglaufen noch einmal um und sagt: „Vielen Dank, dass ihr das alles macht.“ Situationen, in denen Wolfgang die Dankbarkeit der Gäste spürt, gibt es öfter – wie beispielsweise die Frau, die heute einen pinken Schal trägt und jeden Tag schon etwas früher da ist, um sich bei allen zu bedanken.
Armut in Deutschland
Die Gäste der Vesperkirche sind im Laufe der Jahre vielfächtiger geworden. Während vor fünf bis sechs Jahren größtenteils eher Menschen ohne Obdach in der Kirche gegessen haben, sind es heutzutage auch Menschen, die zwar eine Unterkunft haben, jedoch trotzdem unter den immer weiter steigenden Preisen leiden. Armut und das Angewiesensein auf solche Angebote sind schon seit Längerem keine Angelegenheit mehr, die nur einen kleinen Teil der Bevölkerung betrifft, da sich die Grenzen für Armut mit den Preisen deutlich nach oben verschoben haben. Für Lebensmittel wird inzwischen ein deutlich größerer Teil des privaten Einkommens ausgegeben, was bei manchen Menschen dazu führt, dass sie auch in diesem Bereich Kürzungen vornehmen müssen.
Ein Ort der Begegnung
Auch nach der Essensausgabe sitzen im Laufe des Tages noch viele Gäste zusammen und unterhalten sich mit einem Kaffee in der Hand. Die Kirche bleibt konstant voller Leben und Gespräche. Manche gehen etwas früher, dafür kommen neue Besucher, die sich zur gemeinschaftlichen Atmosphäre dazugesellen. Viele sind hier auch hauptsächlich wegen der Gemeinschaft und um Zeit mit den Freunden zu verbringen, die sie hier gefunden haben. Viele Gäste der Vesperkirche kennen sich untereinander – und auch ihre Geschichten.
Eine von ihnen ist Bona, die gemeinsam mit einer guten Freundin einen Kaffee trinkt. Eine sehr gepflegte Frau mit einem hellbraunen Mantel und ganz viel Schmuck, den sie geschenkt bekommen hat und über den sie sich immer besonders freut. Auch ihre Ohrringe trägt sie passend zu ihrer Kette, die sie voller Freude präsentiert. Bona erzählt von ihrem ersten Mann, der sie sehr schlecht behandelt hat, und von ihrem zweiten Mann, den sie sehr geliebt hat und dessen Nachnamen sie bis heute mit Stolz trägt. „Ich hab die Hölle und den Himmel erlebt“, sagt sie. Als Bona anfängt, über ihre verstorbene Mutter zu erzählen, kullert ihr eine Träne über die Wange, und sie hält sich schnell die Hände vors Gesicht. Ihre Freundin hält ihr sofort die Hand und sagt ihr, wie stark sie ist und wie stolz sie sein kann, dass sie so daran gewachsen ist. „Weißt du, Bona macht sich immer so gerne zurecht und sieht immer so schön aus – auch wenn sie heute ein bisschen verstrubbelt ist!“, sagt sie lieb neckend. Bona fängt schnell wieder an, breit zu lächeln. Als sie auf die Uhr blickt, merkt sie, dass sie schnell los muss, weil es von der Organisation „Femmetastisch“ immer einen Flohmarkt gibt, auf dem man Sachen geschenkt bekommt. Dort hat sie auch schon öfter schönen Schmuck gefunden.
Wolfgang erzählt, dass die Gäste hier einen gewissen vorurteilsfreien Raum in der Gemeinschaft bekommen sollen, in dem sie nicht mit Fragen über ihre Situation oder ihr Leben konfrontiert werden, wenn sie das selbst nicht möchten. „Hier fragt dich niemand, woher du kommst oder wohin du gehst, wieso du hier bist oder wo du schläfst“, sagt er. Die Helfer sind schlichtweg dafür da, die Menschen zu unterstützen und ihnen Gutes zu tun, ohne sie in die Lage zu bringen, sich konstant mit ihrem Leben auseinandersetzen zu müssen. Wenn jemand aber doch etwas erzählen möchte, hört man gerne zu – doch auf die Leute zuzugehen und sie nach ihrer Geschichte zu fragen, wäre übergriffig.
Trotz der Freundschaften und Gemeinschaft läuft nicht immer alles harmonisch ab, und es kommt vereinzelt auch zu Zwischenfällen. Beispielsweise kann es passieren, dass Gäste aggressiv sein könnten oder auch ein Streit zwischen Gästen kann eskalieren. Aus dem Grund wird den Helfenden von Anfang an erklärt, wie sie sich in so einer Situation verhalten sollten. Auch die Polizei schaut sicherheitshalber täglich ein paar Mal am Tag vorbei.

Wertschätzung
Gegen Ende der Vesperkirche geht es nochmal weiter mit der Essensausgabe. Es ist 14 Uhr und es ist noch etwas übrig geblieben, weshalb sich die, die eine zweite Portion wollen, nochmal kostenlos anstellen dürfen. Die Aufgabenverteilung unter den Helfenden hat auch duschgewechselt, wodurch nun neue Leute an der Essensausgabe sind während die anderen die Brote für die Vespertüten vorbereiten, die zum Schluss noch verschenkt werden. Wolfgang scheint die ganze Arbeitszeit über sehr gelassen und freundlich. Ihn macht es glücklich Gutes zu tun und er lernt durch die Arbeit vor allem, wie wichtig es ist, wertzuschätzen was man hat. Viele der Gäste freuen sich beispielsweise sehr wenn der Friseur da ist, was für andere Menschen in anderen Lebenssituationen, jedoch eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint.
Zum Schluss tritt ein älterer Mann mit einem Gehstock langsam zur Essensausgabe vor und bittet um nach einen Nachschlag, weil er noch Hunger hat. Der Mann war vorher bereits da und hatte nun bis 14 Uhr gewartet, um noch etwas zu bekommen. Wolfgang bereitet ihm die To-Go Box vor und legt ihm anschließend still und heimlich noch ein paar Süßigkeiten mehr in seine Tüte. Der Mann antwortet ihm mit einem großen Lächeln und einem sanften „Danke."