Kolumne

Zwischen Schminke und Robbie Williams

16. Dez. 2021
Ich weiß nicht genau, ob ich gerne feiern gehe. Ob ich das Nachtleben in Stuttgart genieße oder verachte. Womöglich kann man das nicht wissen. Womöglich gibt es dafür keine Antwort. Diese Kolumne ist eine Art Pro-Contra-Liste. Eine ausführliche.

Ich sitze mit meinen Freundinnen um den großen Esstisch im Wohnzimmer. Lidschattenpaletten liegen neben leergegessenen Tellern. Kosmetiktaschen, kleine Spiegel, mehrere Flaschen Sekt und Wein und Gläser – halbvolle, halbleere. Aus der Bluetooth-Box läuft Jemandes „Party-Playlist“. Das bedeutet für mich eine Aneinanderreihung von Liedern, die ich im Alltag niemals hören würde und nur im angetrunkenen Zustand als ertragbar empfinde. Es ist bereits 23 Uhr und wir wollen bald los. Es wird sich umgezogen, präsentiert, gefragt, ob das Top mit der Hose so geht und welche Schuhe am besten dazu passen. Der Anblick erinnert mich an einen klischeehaften Teenie-Streifen. Noch vor ein paar Monaten war pandemiebedingt allein die Vorstellung eines solchen Abends so bizarr – so weit entfernt. Jetzt versuche ich mir umso mehr bewusst zu machen, wie besonders solche Abende sind und wie sie einmal Teil unserer Erinnerungen sein werden.

Die Katerplanung

Wir planen bereits den Kater-Tag, der sowieso folgen wird: Welche Filme werden morgen geschaut? In wessen Zimmer treffen wir uns? Haben wir noch was zum Kochen da oder müssen wir Essen bestellen, weil Sonntag ist?  Ich merke an, wie absurd es ist, jetzt schon zu planen, wie wir das Katern und das kollektive „sich schlecht fühlen“ morgen zelebrieren wollen, obwohl wir noch nicht einmal im Club angekommen sind. Anna gesteht, dass sie eigentlich das gemeinsame Fertigmachen vor der Party und das Zusammensein am nächsten Tag mehr mag als das Feierngehen an sich. Allgemeine Zustimmung. „Man muss halt feiern gehen, um katern zu können.“ Und irgendwie steckt darin ein wenig Witz und auch ein wenig Wahrheit.

Wir brechen auf, stolpern aus der Haustür direkt ins Getümmel.

Fremde Leute im Club küssen

Ich habe das Gefühl, wir leiden ein wenig unter Torschusspanik: wollen die letzten anderthalb Jahre in die paar Monate stopfen, die wir gerade haben. Diese paar Monate, in denen scheinbar alles wiedernoch „normal“ ist. Menschen finden es oft übertrieben, wenn die jüngere Generation sagt, sie würde ihrer „besten Zeit“ beraubt. Ja klar ist das Leben mit 30 nicht vorbei. Auch nicht mit 40 oder 50 – außer man stirbt davor. Trotzdem sind das gerade unsere 20er. Die Zeit, in der man fremde Leute im Club küsst, um sich am nächsten Tag beschämt an den Kopf zu fassen. Die Zeit, in der man die Liebe seines Lebens an der Bar kennenlernt. Egal wie unwahrscheinlich das ist: Ich will die fucking Illusion! Ich will mit fremden Menschen motivierende Gespräche auf dem Klo führen und als Letzte mithilfe von Robby Williams‘ Angels und der Security aus dem Club geschmissen werden. Auch wenn ich es manchmal anstrengend finde: die laute Musik, die betrunkenen Menschen, die ekligen Toiletten. Irgendwo liegen in einer solchen Nacht Geschichten vergraben, über die wir morgen lachen werden. Der nächste Lockdown klopft schon an der Tür. Er steht schreiend davor und weht mit roten Fahnen.