Der Shaolin von Schorndorf: Superheld in der schwäbischen Provinz
Beißender Rauch steigt den Schülern in die Nase. Über Schorndorf hängen tiefschwarze Wolken. Seltsame Stille. Nur das Knistern des Feuers. Die Feuerwehr ringt mit den Flammen. Doch schnell ist klar, es ist nichts mehr zu retten. Über dem Eingang baumelt ein mit Ruß überzogenes Schild: Shaolinzentrum Qi Lu.
Jeden Tag ist Kung-Fu-Unterricht. Seit 11 Jahren. Heute nicht. Von Meister Yuan Lus Schule sind nur noch Schutt und Asche übrig. Ein Brand im Keller des Gebäudes hat alles zerstört. „In der Schule stecken sehr viel Arbeit und Erinnerungen. Ich habe sie gemeinsam mit meinen Schülern ausgebaut. Alles, was ich aus China mitgebracht habe, ist verbrannt.“ Meister Yuan Lu steht vor den Trümmern seiner Existenz.
Zum persönlichen Schicksal kommt auch noch der Lockdown. Corona macht über Monate nur Online-Training möglich. Dann endlich, im Herbst 2020 Treffen vor einer Turnhalle. Es soll wieder losgehen mit dem Präsenzunterricht. Doch auch hier hat die Corona-Krise Spuren hinterlassen: Viele Schüler haben gekündigt, Kung Fu online lernen klappt nur bedingt. Es erfordert viel Disziplin und Selbstkontrolle dabei zu bleiben. „Besonders für die Kinder ist das nicht leicht, die sind schnell abgelenkt“, erzählt Lu. „Aber die Einschränkungen spielen keine Rolle, solange ich mich bewegen kann, unterrichte und trainiere ich weiter." Für einen Shaolinmönch ist aufgeben keine Option.
Eine Schule für Körper und Geist
Meister Lu sitzt auf einer Bank im Vorraum einer Schorndorfer Turnhalle. Er strahlt eine unglaubliche Ruhe aus, gleichzeitig wirkt er wachsam für jede Veränderung in seinem Umfeld. Er trägt eine orangene weite Hose, darüber eine graue Jacke aus Leinenstoff. Seine schwarzen Haare sind kurzgeschoren, einmal pro Woche rasiert er sein Haupt. Nichts soll beim Training ablenken. Und Shaolinmönche sollen keinen Schmuck tragen. So wie man das man aus den Kung-Fu-Filmen kennt. Er blickt auf, die Schüler kommen in ihren Trainingsanzügen aus den Umkleiden. Sie tragen graue Roben, die Alltagskleidung der Shaolinmönche. „Gehn ma erstma laufen“, sagt er und nickt ihnen freundlich zu. Das Training beginnt: joggen durch den Wald, zehn Kilometer. Mal vorwärts, mal rückwärts, dann 600 Kniebeugen zum Aufwärmen! Liegestützen auf den Fäusten und das auch noch auf den harten Knochensteinen vor der Turnhalle ergänzen das Trainingsritual. Zurück in die Halle. Alle schnaufen, ringen nach Luft. Und das war erst das Aufwärmtraining.
„Als ich neun war haben mich meine Eltern in den Shaolintempel gebracht. Es war sehr hart, das erste halbe Jahr habe ich jeden Abend geweint. Im Nachhinein bin ich froh, dass ich dort war“, erzählt der Shaolinmeister. Bei seiner Ankunft im legendären Shaolinkloster im Ort Dengfeng begrüßt ihn der Großmeister. Ein alter Mann in einem weißen Gewand, mit einem langen weißen Bart und Glatze. Es ist sofort klar, dass er hier das Sagen hat. „Von diesem Tag an sind wir jeden Morgen kurz vor fünf aufgestanden, haben den ganzen Tag bis spätabends trainiert.“ Das gehe hier mit den Kindern natürlich nicht, dennoch sei das Shaolintraining sehr hart. Ohne diese vielen, konzentrierten Übungen gehe es nun mal nicht.
Das Kloster aus dem Meister Lu kommt, das Ursprungskloster des Shaolinordens, liegt im Herzen Chinas. Seit 496 n. Chr. unterrichten sie dort, am Berg Sogshan in der Provinz Henan, die Buddhistische Lehre und das weltbekannte Shaolin Kung Fu. Meister Lu gehört zur 34. Generation der Shaolin. Eine Lebensschule, die nur die talentiertesten und mental stärksten der Novizen durchlaufen. Viele halten den Druck, die körperliche und mentale Belastung, weit weg von den Eltern nicht durch, geben auf.
Keine Zeit mehr, Kind zu sein, acht Stunden hartes Training und Meditation. Das ist seit Generationen der Alltag der Shaolin. Morgens, mittags, abends, zu jeder Tageszeit intensives Training. Der kleine Yuan Lu hat es geschafft, er lebt im berühmten Shaolinkloster, der Wiege der Kampfkunst.
„Okay, lauf ma Formen“, sagt Meister Yuan Lu und blickt streng zu seinen Schülern. Formenlaufen heißt: Sie kämpfen gegen imaginäre Angreifer. Sieht aus wie eine Mischung aus Tanz, Schattenboxen und Dehnübungen. Eigentlich stellt man sich den Besuch bei einem Kung-Fu-Meister anders vor: eine schicke Kampfkunstschule mit goldenem Buddha in der Ecke, vielen martialischen Waffen an den Wänden, Bilder von fliegenden Shaolinmönchen. Stattdessen eine Schul-Turnhalle, in der es nach altem Schweiß und nach noch älteren Turngeräten muffelt. Doch das beeinflusst den Unterricht keinesfalls. Konzentriert laufen die Schüler ihre Formen. Und Meister Lu voran. Bei ihm sieht alles elegant, weich, fließend und zugleich unglaublich kraftvoll aus. Tief stehen, das kann er! Eine Übung, die so aussieht, als ob er auf einem unsichtbaren Stuhl sitzen würde. Was andere keine fünf Minuten aushalten, kann er stundenlang. Seine Oberschenkel hart wie Stein. Absolute Körperbeherrschung: Genauso wie man sich einen waschechten Shaolinmönch vorstellt. Hinzu kommen die stillen Anteile der Shaolinkultur, wie das Qigong, was sich am einfachsten mit Heilgymnastik übersetzen lässt. Auch das gehört zum Training, schon mit den kleinsten Schülern. Ergänzend dazu lernen die etwas Älteren Tai Chi, das sogenannte Schattenboxen. All das schult die Koordination, das Gleichgewicht, das Körpergefühl und letztendlich das Selbstbewusstsein, aber ganz besonders den Geist, erklärt der Meister. Und fügt hinzu: „Meine Schüler sind so gut wie nie krank.“
Das Kung Fu hat Meister Lu viele Türen geöffnet
Mit 18 Jahren endet sein Leben im Shaolinkloster. Die letzten Jahre verbringt er mit dem Meister-Training, er will immer noch besser werden. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht: „Ich bin als einer von wenigen für die Showgruppe ausgewählt worden.“ Die weltberühmte Showgruppe der Shaolin. Fortan reist er durch die Welt, um das Shaolin Kung Fu bekannt zu machen – die bis vor einigen Jahrzehnten geheime Kunst der Mönche. Er wohnt in tollen Hotels: Luxus für den bodenständigen Mönch, das komplette Gegenteil vom Leben im Kloster. „Wir waren jeden Tag an einem anderen Ort, auf der ganzen Welt. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das Kung Fu so viel ermöglicht.“ Bei einem Auftritt in Tunesien kommt es zur entscheidenden Wende in seinem Leben. Er lernt eine deutsche Familie kennen. „Mach doch eine Kung-Fu-Schule in Deutschland auf“, haben die gesagt. „Das hat mir gleich gefallen.“
Der junge Meister Yuan Lu trifft eine schnelle Entscheidung. Er folgt der Familie nach Süddeutschland und fühlt sich dort sofort wohl. Schorndorf wird seine neue Heimat. „Irgendwie war mir auch die Sprache vertraut, obwohl ich sie zuvor nie gehört habe“. Der Shaonlinmönch ist ehrgeizig und zielstrebig, lernt schnell Deutsch. Die Schüler sind fasziniert von „ihrem echten Shaolinmönch“ und lernen begeistert das legendäre Shaolin Kung Fu. „Alle meine Schüler haben das gleiche Ziel“, erzählt er, „sie möchten die Shaolinkultur erfahren und ihren Weg finden. Es ist eben nicht einfach nur der Sport, der sie begeistert und zu einem glücklichen Leben führt."
Die Schüler sind mit ihrem Formen durch und warten auf weitere Anweisungen ihres Meisters. „Habt ihr gut gemacht. Holen ma Schlagzeug raus!“ Das Kampftraining beginnt. Die Schüler schlagen und kicken auf Lederpratzen ein, geben dabei wilde Schreie von sich. Endlich! Hier stimmt das Klischee. Nach eineinhalb Stunden hauen sie mal richtig drauf. Aber auch hier geht es nicht ums Kämpfen. Im Gegenteil: Es geht um Körperbeherrschung. „Das oberste Ziel ist, dass meine Schüler niemals kämpfen müssen. Es reicht, dass sie es könnten. Das ist genug.“
Das Kung Fu hat Meister Lu viele Türen geöffnet. Mittlerweile ist er gefragter Topact in verschiedenen Fernsehshows. Die Schüler erzählen von einem großen Auftritt zur TV-Primetime im letzten Sommer, bei dem Yuan Lu live eine Nadel durch eine Glasscheibe geworfen hat. Der Clou: Die Nadel hinterlässt nur ein winziges Loch, gerade so, als wäre es ein Einschussloch einer Schusswaffe. „Das ist eigentlich ganz einfach, nur Übungssache! Man muss den Willen haben.“ So sieht es der Meister, doch es gibt nur wenige, die diese Kunst beherrschen. Für ihn allerdings eine ganz normale Vorführung. Keine Spur von Aufregung. „Ich trage eine große Verantwortung, als Lehrer muss ich alles perfekt machen“, sagt er lächelnd. Und ein Shaolinmönch darf eben nie aufgeben.
Meditation zum Ausgleich
Und jetzt, wo die Schule abgebrannt ist, er alles hier verloren hat, viele Schüler gegangen sind – Wie geht es weiter? Statt Wut und Trauer erneut ein sanftes Lächeln. „Ich werde eine neue Schule bauen, vielleicht in Lindau.“ Dort gibt der Shaolinmönch immer wieder Wochenendseminare, bildet Schüler zu Kung Fu-, Qigong- und Tai Chi-Lehrern aus.
Dann unterbricht er seine Gedanken ganz plötzlich. „Hey, nicht so viel schwatzen. Mach ma Bauch und Rücken!“ Auf Kommando legen sich alle Schüler auf den Rücken und machen Sit-Ups. Meister Lu klatscht in die Hände: „So, sitzen ma noch!“ Also eine Runde meditieren. Und wozu das alles? Er schaut überrascht. „Wir verbrauchen im Training viel Energie, jetzt fahren wir herunter und holen uns die Energie zurück. Gleichgewicht ist wichtig, das brauchen wir alle“.
Meditieren zum Abschluss des Trainings, wie es die Shaolinmönche in ihrem sagenumwobenen Orden seit 1500 Jahren machen.