„Mir wurde mein Leuchten herausgeschnitten.“
„Mir wurde mein Leuchten herausgeschnitten“
Triggerwarnung: In diesem Text wird ausführlich über die Verstümmelung von weiblichen Genitalien berichtet. Einige Leser*innen könnten dies als beunruhigend oder verstörend empfinden.
Die weibliche Genitalverstümmelung ist auch oft unter dem Begriff weibliche Genitalbeschneidung zu finden. Dieser Begriff verharmlost allerdings die schwere Menschenrechtsverletzung und erinnert an den medizinischen Eingriff der männlichen Vorhautbeschneidung.
Das Wort Genitalbeschneidung sollte dementsprechend nur von Betroffenen selbst oder im Umgang mit ihnen genutzt werden, um sie nicht weiter als Opfer zu stigmatisieren.
Heute ist für Fadumo eigentlich ein großartiger Tag. Ihre Mutter ist besonders liebevoll zu der Siebenjährigen; drückt und wäscht sie, schneidet ihr die Nägel und kämmt ihr die Haare. Irgendetwas Besonderes muss bald passieren, das spürt sie. Auch ihr großer Bruder Achmed ist extra aus Mogadischu gekommen. Bei einem großen Festessen feiert die somalische Familie bis tief in die Nacht. Doch die leckeren Gerichte ihrer Mutter darf Fadumo nicht anrühren, nur etwas Brei und Tee bekommt sie. „Während des Festes wusste meine Familie vermutlich schon, dass ich tagelang nicht auf die Toilette gehen kann“, erinnert sie sich heute.
In den frühen Morgenstunden wird sie von ihrer Mutter geweckt. Die beiden machen sich auf den Weg und treffen nach einiger Zeit auf eine sehr alte, zittrige Frau. In der einen Hand hält sie eine Metalldose gefüllt mit Akaziendornen und Rasierklingen, in der anderen ein schmutziges Tuch, auf welches sich Fadumo legen soll. Anschließend geht alles ganz schnell. Ihre Beine werden auseinandergerissen, in den Mund bekommt sie ein Stück Holz. Ihre Mutter hält ihr die Augen zu und fixiert ihre Arme. Und dann kommt er, der erste Schnitt, der ihr Leben für immer verändern soll. „Es hat sich angefühlt, als würde man mir ein glühendes Eisen durch den Körper bohren“, erinnert sie sich heute, immer noch merklich von den Ereignissen berührt. „Ich spürte nur noch kaltes Blut an meinem Oberschenkel herunterlaufen und anschließend wurde alles schwarz.“
Genitalverstümmelung ist ein weltweites Problem
Das Erlebnis von Fadumo ist kein Einzelfall, sondern eine weitverbreitete Tradition. Der World Health Organization (WHO) zufolge sind weltweit 200 Millionen Frauen und Mädchen genitalverstümmelt. Unter diesem Begriff versteht man alle Verfahren, die die teilweise oder vollständige Entfernung der weiblichen äußeren Genitalien oder deren Verletzung zum Ziel haben. Genitalverstümmelung, auch Female Genital Mutilation (FGM) genannt, wird heutzutage auf allen Kontinenten praktiziert. Dabei weisen Länder wie Somalia (98 Prozent), Guinea (97 Prozent) oder Dschibuti (93 Prozent) laut UNICEF einen besonders hohen Anteil betroffener Frauen auf.
Die Gründe für dieses Ritual sind verschieden, komplex und von Land zu Land unterschiedlich. Die Genitalverstümmelung folgt in vielen Regionen einer langen Tradition und markiert den Übergang des Mädchens zur Frau. FGM gilt dort als selbstverständlich und normal. Diese Tradition nicht weiterzuführen, wäre ein Verrat an den Stamm und würde die gesellschaftliche Anerkennung senken. Auch ökonomische Gründe spielen dabei eine große Rolle, da eine unbeschnittene Frau schwieriger zu verheiraten ist.
Die Arten der Verstümmelung sind oft unterschiedlich und werden von der WHO in vier Typen unterteilt:
Fadumos Verstümmelung trifft auf Typ III zu, auch Infibulation genannt. Dabei werden die Klitoris und Vulvalippen entfernt. Anschließend wird die Wunde bis auf ein kleines Loch zugenäht. Dadurch soll die vermeintliche Reinheit der Frau bewahrt werden. Die Naht wird meist nur für den Geschlechtsverkehr mit dem Ehemann oder für die Geburt aufgetrennt und anschließend erneut verschlossen.
Diese Art der Verstümmelung ist in Somalia weitverbreitet und die Schwerwiegendste der vier Typen.
Viele Mädchen und Frauen leiden nach dem Eingriff unter starken Schmerzen. Auch Fadumo fällt das Laufen und Sitzen schwer, da sich ihre Wunde entzündet hat. Nicht selten kommt es nach der Verstümmelung zu starkem Blutverlust, Zystenbildung oder Infektionen. Rund jedes vierte Mädchen stirbt an den Folgen einer Genitalverstümmelung. „Es gibt kein Wort, was diese Schmerzen beschreiben könnte“, erinnert sich Fadumo heute und schluckt. „Mir wurde mein Leuchten herausgeschnitten“, fährt sie fort.
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Besonders die Toilette wird für Fadumo ein Ort der Angst. Ein Raum, indem sich das Geräusch von tröpfelndem Urin mit dem stechenden Geruch ihrer entzündeten Wunde mischt. Sie wird immer dünner und stiller. Für ihre Familie wird Fadumo zur Belastung und deswegen zu Verwandten nach Deutschland geschickt.
Dort angekommen ist erstmal alles anders: die Familie, die Natur, die Luft und vor allem die Kultur. Während in Somalia 98 Prozent aller Frauen genitalverstümmelt sind, gibt es laut der Frauen-Menschenrechts-Organisation TERRE DES FEMMES in Deutschland schätzungsweise 75.000 Betroffene. Diese sind meist nach Deutschland eingewandert und stammen aus ethnischen Minderheiten. Die deutsche Kultur ist für sie oft fremd. „Viele Frauen haben gar nicht das Bewusstsein, dass sie genitalverstümmelt wurden. Für sie ist es ein Teil der Kultur, etwas total Normales“, sagt Dr. Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie des Auguste-Viktoria-Klinikums in Berlin. „Erst wenn sie dann in der westlichen Gesellschaft ankommen, wird ihnen das Ausmaß ihrer Erlebnisse bewusst.“
Fadumo weiß, sie muss sich jemandem anvertrauen, damit die täglichen Schmerzen endlich vergehen. Doch was tun, wenn niemand in Deutschland über FGM Bescheid weiß, wenn es kaum Ärzt*innen gibt, die ihr helfen könnten, die Anlaufstellen rar sind? „Der erste Arzt, dem ich mich anvertraute, ist vom Stuhl gefallen und wollte mich anschließend nicht weiter behandeln.“
FGM ist selten Inhalt von Lehrplänen
Das Erlebnis von Fadumo ist keine Seltenheit. Obwohl es in Deutschland bereits zahlreiche Initiativen und Organisationen im Kampf gegen FGM gibt, kommt es immer wieder zu unsensiblem Verhalten von medizinischem und psychologischem Personal. „Man kann den Ärzt*innen meistens keinen Vorwurf machen; die wenigsten von ihnen wurden richtig geschult“, sagt Dr. Christoph Zerm, Facharzt für Frauenheilkunde. Bereits in der Ausbildung oder im Studium müsse FGM thematisiert werden, damit Betroffene vor einer weiteren Retraumatisierung geschützt werden könnten, so der Facharzt.
Auch andere FGM-Expertinnen berichten von mangelnder Aufklärung während ihrer Ausbildung.
Nach langem Suchen findet Fadumo doch noch einen Arzt, der ihr zuhört, sie versteht und ihre Schmerzen durch eine Operation lindern kann. Bis dahin war es ein steiniger, aber auch lehrreicher Weg. Heute weiß sie ganz genau, was im Kampf gegen FGM zu tun ist: „Unser Gesundheitssystem muss reformiert werden und die weibliche Genitalverstümmelung muss dabei eine Rolle spielen.“
Ihr Verein NALA e.V. setzt sich schon lange gegen FGM und für mehr Aufklärung ein. Ihre Forderungen sind konkret: mehr Kultur- und Sprachmittler*innen sollen gewonnen und gerecht entlohnt werden; ein Teil der Entwicklungsgelder soll nachweislich für Frauen- und Mädchenprojekte ausgegeben werden. Außerdem sollen medizinische Behandlungen im Rahmen von FGM besser von der Krankenkasse abgerechnet werden können.
Heute ist Fadumo Dolmetscherin, Buchautorin, Aktivistin und Mutter. Eines ist sie aber auf keinen Fall: Opfer. Das zelebriert sie auch in ihrer Wohnung. Die Toilette, ein ehemaliger Ort der Angst, den sie solange mit Tränen, Schreien und Schmerzen verbunden hat, ist heute mit Muscheln und Figuren dekoriert. An den Wänden hängen Bilder, in einem Regal liegen Comicbücher. „Dieser Raum ist zu meinem Lieblingsort geworden. Das wünsche ich mir auch für andere Frauen.“