„Es ist cool, dass sie alle gut zu uns sind, sie wollen mit uns sprechen und kommunizieren, das ist sehr süß“.
Unterricht zwischen Krieg und Flucht
Freundliche Blicke empfangen Elena*, als sie morgens um kurz vor acht durch die Gänge des Mörike-Gymnasiums läuft. Vor vier Monaten ging die 17-Jährige noch auf ihre Schule in der Ukraine. Heute ist sie Teil der ukrainischen Auffangklasse des Mörike-Gymnasiums in Stuttgart. Elena öffnet die Tür ihres Klassenzimmers, das sich im Dachstuhl des Gebäudes befindet – es ähnelt einem Wohnzimmer. Nur die Tafel lässt vermuten, dass hier Unterricht stattfindet. Hinter einem Dachbalken winkt ihr Selma zu und zeigt auf den freien Platz neben ihr. Elena lächelt: Heute wird ein guter Tag.
Präsenzunterricht an deutschen Schulen
Das Evangelische Mörike-Gymnasium in Stuttgart ist in privater Trägerschaft und setzte sich in der Vergangenheit häufiger für sozial schwächere oder geflüchtete Kinder ein. Nun gründete die Schule im April 2022 zwei Auffangklassen für ukrainische Flüchtlingskinder. Eine Klasse für jüngere Schüler*innen und die andere für über 14-Jährige. Neben dem täglichen Deutschunterricht haben die Kinder in ihrer Gruppe auch Fächer wie Sport und Kunst. Der 15-jährige Juri* ist gemeinsam mit Elena Teil der Auffangklasse und freut sich immer besonders auf die Kletterstunde und das gemeinsame Tischtennisspielen. Eine solche Art von Unterricht habe es laut Juri in der Ukraine nicht gegeben, aber Aktivitäten wie diese machen ihm aktuell am meisten Spaß.
Schüler*innen helfen sich gegenseitig
Auffällig sei die altersübergreifende, gegenseitige Unterstützung und Hilfsbereitschaft der ukrainischen Schüler*innen untereinander, berichtet Marina Evseenko, die als Lehrerin in der Auffangklasse arbeitet. „Sie helfen sich gegenseitig. Sie spielen zusammen, sie machen Sport zusammen“, erzählt sie. Mehr aus der Perspektive von Marina Evseenko und weiterer Lehrerkolleg*innen erfahrt ihr hier.
Doch nicht nur innerhalb der Auffangklasse unterstützen sich die Schüler*innen gegenseitig. Über ihren Unterricht hinaus lernen die Kinder ein paar Stunden in der Woche gemeinsam mit den Regelklassen des Mörike-Gymnasiums. Die Teilnahme am Unterricht mit deutschen Mitschüler*innen soll den geflüchteten Kindern dabei helfen, sich besser einzugliedern und Kontakte zu knüpfen.
Elena erzählt, dass ihre deutschen Mitschüler*innen ihnen dabei helfen, den Unterricht besser zu verstehen. Über die Hilfsbereitschaft sei sie sehr dankbar – sie fühle sich nicht allein. „Es ist cool, dass sie alle gut zu uns sind, sie wollen mit uns sprechen und kommunizieren, das ist sehr süß”. Zusammen mit ihnen nimmt sie außerhalb der Schulzeit auch an Tanzkursen teil.
Die Sprachbarriere sei für Elena dabei kein so großes Problem da sie sich auf Englisch gut verständigen kann. Zudem hatte sie bereits Deutschunterricht in der Ukraine. Die deutsche Grammatik ähnele sehr der ukrainischen und russischen, weshalb sie für die ukrainischen Schüler*innen sogar fast einfacher zu lernen sei als die englische. Außerdem sei sie sehr dankbar für die große Unterstützung durch ihre Lehrer*innen: „Es ist einfacher, Deutsch zu lernen, wenn einem ein Lehrer hilft. Unsere Lehrerin hilft uns zum Beispiel und übersetzt und erklärt alles, sodass es einfach ist, wenn man lernen will”.
Selbstwirksamkeit - Der Weg aus der Erstarrung
Sind Mathe, Deutsch und Englisch im Angesicht des Erlebten, einer Flucht aus dem Heimatland und einem immer noch allgegenwärtigen Krieg tatsächlich Dinge, die geflüchtete Kinder jetzt brauchen? „Sie brauchen vor allen Dingen das Gefühl, auf irgendeine Weise selbstwirksam zu sein“, sagt Traumapädagoge Alexander Korittko. Etwas ihnen bisher Unbekanntes zu lernen, sei hierbei bereits ein Schritt in die richtige Richtung. Zudem sei es wichtig, den Kindern zu ermöglichen, selbst etwas zu erschaffen oder sich zu betätigen. „Nicht nur als Ablenkung, sondern auch, um den eigenen Körper als lebendig zu erleben und aus einer körperlichen Erstarrung herauszukommen“, so Korittko. Sport oder Kunst – also Aktivitäten, die ohne Sprache funktionieren – bieten sich hierfür an.
Mehr als 800.000 Menschen sind in den letzten Monaten aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet, etwa 40 Prozent davon sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Dies geht aus einer Auswertung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor.
Fernunterricht aus der Ukraine
Doch nicht alle wollen sich wie Elena in einer neuen Schule integrieren. Einige der aus der Ukraine geflüchteten Kinder nehmen weiterhin ausschließlich an dem Unterricht aus ihrer Heimat teil – jetzt allerdings online. Das ukrainische Lehrpersonal versucht, trotz des Krieges, den Unterricht für die geflüchteten Schüler*innen aufrechtzuerhalten. Es sei für sie die präferierte Option, erzählt die 16-jährige Tanja*, die nun seit einigen Monaten gemeinsam mit ihrer Großmutter bei einem deutschen Ehepaar in Stuttgart wohnt. Sie vermisst ihre Freund*innen sehr und freut sich, sie wenigstens online zu sehen. Einige ihrer Mitschüler*innen sind in Polen, Tschechien, Frankreich oder Rumänien untergekommen, andere sind noch in der Ukraine. Durch die Pandemie hat sich Tanja an den Online-Unterricht gewöhnt. Dieses Stück ukrainischer Alltag gebe ihr Halt. Dennoch sei es auch belastend, dem Krieg doch so nahe zu sein, so Tanja. Immer wieder geht der Alarm los und ihre Lehrerin muss den Unterricht abbrechen. Sobald dieser verstummt, schaltet sich ihre Lehrerin wieder online dazu und es geht weiter.
Schulunterricht als Stabilität
Elena, Juri und Tanja verbindet dasselbe Schicksal: Sie alle sind weit weg von ihrer Heimat und wissen nicht, wann sie wieder in die Ukraine zurückkehren können. Der Schulunterricht – egal ob aus der Ferne oder an der neuen deutschen Schule – bringt zumindest etwas Stabilität in dieser von Sorgen geprägten Zeit.
Die Schulglocke ertönt: Elena packt das Deutschbuch und ihr Mäppchen in ihre Tasche. Sie lächelt Selma an: „Gehen wir los?“ Die Mädchen verabschieden sich von ihren Mitschüler*innen und ihrer Lehrerin. Voller Freude stolpern sie die Stufen hinunter und machen sich auf den Weg zu ihrem neuen Lieblingsplatz: Unter einer großen Eiche im Stuttgarter Schlossgarten machen es sich die Mädchen gemütlich. Sie blicken in den Himmel und lassen ihre Gedanken schweifen. Elena ist dankbar.
Der Name der Protagonist*innen wurden zu deren Persönlichkeitsschutz geändert. Die echten Namen sind der Redaktion bekannt. Alle englischsprachigen Zitate wurden zudem auf Deutsch übersetzt.