TikTok: In nur 15 Sekunden zum Ruhm?

Ein übersättigter Markt und tausende Menschen mit dem gleichen Traum: Die Musikwelt für sich erobern und die Herzen der Menschen mit der eigenen Musik gewinnen. Diesen Traum verfolgt auch die junge Studentin und Musikerin Tejay. „Musik mache ich eigentlich schon immer. Mit dem Song schreiben und Produzieren habe ich erst in der Corona-Zeit richtig angefangen und daraus hat sich dann der Wunsch entwickelt, einen Song zu veröffentlichen“, erzählt sie. 

Gerade unter den Newcomern ist Social-Media-Marketing nicht mehr wegzudenken. Besonders die Plattform TikTok ist ein Vorreiter und gilt als eine künstlerfreundliche Plattform, da sich beliebte Sounds schnell verbreiten. Immer wieder finden die gleichen Songs sowohl auf TikTok als auch in den Charts Ruhm. Aber hat TikTok wirklich Einfluss auf die Musikindustrie?  

Ohne musical.ly gäbe es kein TikTok. Deshalb ist es wichtig, die Vorgeschichte zu kennen: Die Plattform wurde von Louis Yang und Alex Zhu entwickelt und 2014 veröffentlicht. Als Zhu Teenager in der Bahn beobachtete, die Musik hörten und Selfies machten, wie er der New York Times verriet, wollte er diese Dinge zu einer App kombinieren. Damals war die Idee, Selfies und Videos zu posten und diese mit Musik zu hinterlegen. Schnell beliebt wurde Lip Syncing und kleine Choreografien passend zu bekannten Liedern. 2016 wurde TikTok von dem chinesischen Technologieunternehmen ByteDance entwickelt. Ein Jahr später kaufte ByteDance die Kurzvideo-Plattform musical.ly und fusionierte 2018 mit TikTok. Dadurch erweiterte sich der Fokus der App über Musik hinaus auf ein breiteres Themenspektrum.

TikTok hat sich inzwischen zu einer Plattform mit vielfältigem Unterhaltungsangebot entwickelt, darunter Tanzvideos, Musik und Live-Streams, die Nutzende kreativ gestalten können. Mehr als eine Milliarde Nutzende hat die App weltweit. 

Auch in der Musikindustrie hat sich mit steigendem Beliebtheitsgrad der App einiges verändert. Mittlerweile gilt die Plattform als wichtiges Promo-Tool für Musikschaffende. Ein ,,Platzhirsch” unter Social Media Plattformen, wie Steffen Geldner in einem Interview mit uns beschreibt. Vor vier Jahren gründete er das Musikkollektiv ,,bermvda”, das sich auf die Verbindung von Influencermarketing und Musikbranche spezialisiert. Ein entscheidender Vorteil von TikTok gegenüber bspw. Instagram ist die zentrale Rolle der Musik, die dort mehr Creations fördert.

Paradebeispiel für den TikTok Durchbruch ist der Rapper Lil Nas X. Sein Erfolgshit „Old Town Road“ wurde 2019 zum globalen Phänomen, nachdem hunderttausende Nutzende den Song in ihren Videos nutzten. Der neumodische Country-Hit, gemeinsam mit Billy Ray Cyrus, hielt sich 19 Wochen an der Spitze der Billboard 100 - ein Rekord.

TikTok verändert den Fokus von Labels und den Sound der Musik: Ohrwurm-Melodien und einfache Texte prägen den perfekten TikTok-Hit. Viele Künstler*innen strukturieren ihre Songs inzwischen gezielt für die perfekten 15-sekündige Dramaturgie, die das Interesse der Nutzende wecken sollen. Manche Labels sehen in TikTok sogar eine kostengünstige Alternative zu teuren Musikvideos. Erspartes Geld auf Kosten der Musikschaffenden, die ohnehin nicht viel Geld durch TikTok generieren. ,,Bei der Abrechnung kommt es nicht auf die Aufrufe an”, unterstreicht Nicolaj Gruzdov in unserem Interview, Mitgründer der Musikmarketingagentur Dunstan Media. Die Währung sind Klicks und Aufmerksamkeit.

Doch lässt sich TikToks Einfluss auch anhand von Daten belegen? Dafür haben wir einen näheren Blick in die verschiedenen Listen der Top 10 Songs von TikTok DE, Spotify DE und den offiziellen deutschen Charts aus den Jahren 2021 bis 2024 geworfen. Nicht immer waren die Songs aus den deutschen Charts oder aus Spotify DE in den Top 10 TikTok Charts vertreten, weswegen diese in manchen Jahren nicht abgebildet wurden.

Die Überschneidungen der verschiedenen Top-Listen zeigen, dass virale Songs auf TikTok auch in den Charts und in Spotify Top-Listen auftauchen. Das beschränkt sich nicht nur auf die Top 10 Platzierungen. Es gibt Überschneidungen bis in die Top 50 der verschiedenen Plattformen. Zur Veranschaulichung haben wir uns auf die Überschneidunen der Top 10 fokussiert. Verglichen wurde immer TikTok mit den anderen beiden Plattformen. Auch bei Spotify und den Charts gibt es Überschneidungen, die aber für die Analyse nicht relevant sind.

Ob die Songs zuerst auf TikTok getrendet sind und dann in die Charts kamen, oder umgekehrt, können wir durch unsere Datenanalyse nicht feststellen. Dafür fehlen uns die genauen Zeitpunkte der Datenerhebungen durch TikTok, Spotify und die deutschen Charts. Viele Daten, die für unsere Erhebungen relevant gewesen wären, sind besonders von TikTok und Spotify nicht öffentlich zugänglich.

Verschiedene Faktoren wie der Einfluss von anderen Medienkanälen, wie Fernsehen und Film, können eine Rolle spielen, ob ein Song nicht zufällig in den Charts und Social Media Plattformen einen Boost erfährt. Charlotte Stahl, Head of Music DACH von TikTok DE, erzählt uns selbst wie bspw. Kate Bushs „Running Up That Hill" durch die Verwendung in der Netflix-Serie „Stranger Things“, ein Comeback auf TikTok gefeiert hat. Dass es an der Plattform TikTok allein liegt, welche Songs in die Charts gelangt, kann man so nicht bestätigen. Stahl sagt selbst, dass TikTok „keine Musikstreaming-Plattform“ ist, aber maßgeblich zur Musikentdeckung und Promotion von Musik beiträgt.

„Vor der Pandemie hätten wir nicht gedacht, dass mit TikTok die nächste App kommt, die so große Auswirkungen hat.“. Gruzdovs Agentur ist sich dem Potential der App bewusst und geht ebenso davon aus, dass diese erstmal die Nummer eins Prio in Sachen Musikmarketing sein wird. Es ist dennoch nicht auszuschließen, dass etwas Neues auf den Markt kommt und diesen nochmal durcheinanderwirbelt, wie es TikTok getan hat.
Doch was TikTok letztendlich für die Musikindustrie bedeutet, ist aus der Sicht der Musikschaffenden selbst wahrscheinlich am interessantesten. Denn am Ende des Tages entscheidet keine App allein über den Erfolg einer Person. „Entscheidend ist immer noch der Artist und die Musik. Also das Grundprodukt […] Von daher würde ich sagen, dass hauptsächlich die Menschen entscheiden, wie es weitergeht.“

Was bedeutet das nun für (angehende) Musikschaffende? Muss ich zwangsläufig auf Social Media und vor allem TikTok zurückgreifen, um erfolgreich zu werden? Nicht unbedingt. ,,Was wir immer vergessen ist, dass Musikkünstler*innen keine Creator*innen sind. […] es schaffen deshalb nur ganz wenige, sich in dieser Welt wohlzufühlen und auch schnell zu wachsen.“, meint Geldner. In erster Linie achte er besonders darauf, dass seine Musikschaffenden nur das machen, was sich in ihrem Herzen gut anfühlt. Was eine größere Priorität wäre, ist zu verstehen, dass die Musikbranche nichts anderes als ein Geschäft ist. „Du musst die Leute kennen. Du musst auf den Veranstaltungen sein und musst anfangen Leute kennenzulernen, die erfolgreicher sind als du, um zu gucken, wie viel die arbeiten, was die für Strategien fahren.“

Auch würden angehende Musik-Newcomer nach einem Erfolg eines TikTok-Hits nur schwer den Anschluss an eine fortlaufende Karriere knüpfen können. Woran liegt das? ,,Wir entscheiden innerhalb von 0,4 Sekunden, ob wir das nächste Video schauen wollen oder nicht.”, erklärt Gruzdov. Für uns Nutzende wäre der nächste*r Artist nur einen Swipe weit entfernt.

Um einen tatsächlichen Karrierestart abseits des vorübergehenden TikTok-Ruhms aufzubauen, müsse man sich früher oder später mit der Musikbranche beschäftigen. ,,Wenn du dich nicht darüber informierst, wie der Markt funktioniert [...] dann hast du natürlich das Problem, dass du nicht anknüpfen kannst”. Wer sich auf kurzfristige Verträge verlässt, erschwert sich den Weg zu einer langfristig erfolgreichen Musikkarriere.

Worauf es ankommt, fasst Geldner kompakt in vier Tipps zusammen. Diese sollen helfen, langsam und stetig eine Musikkarriere aufzubauen.

Tejay möchte TikTok auf jeden Fall weiter als Marketingtool nutzen. Denn im Vergleich zu Instagram wird ihr Song auf TikTok mehr Leuten ausgespielt und auch vorzugsweise denen, die allgemein an Musik interessiert sind. Ob sie durch TikTok berühmt wird oder sogar Geld mit ihren Videos verdient, ist ihr derzeit noch nicht wichtig. „Leute werden erstmal auf meine Musik aufmerksam, das ist das Wichtigste“, sagt sie. 

Die Zwanzigjährige freut sich auf die Veröffentlichung ihrer ersten Single, Ende Juli 2024. „She’s not on her own“ wird laut der Sängerin vielleicht nicht gleich der große Durchbruch, doch das sei auch erstmal nicht das Ziel. „Man muss klein anfangen, bevor man groß werden kann“, sagt die junge Studentin.