„Innerhalb von zehn Sekunden entscheidet sich, ob man den Song weiterhört.”
Musik im Wandel?!
Die Jugend tanzt zu zerkratzen Schallplatten mit Disco-Musik. In den Straßen trifft man auf Schulterpolster und Dauerwellen. Songs wie „Another one bites the dust“ von Queen laufen im Radio – sofort hat man die 80er Jahre vor Augen. Heute sieht die Welt ganz anders aus: Über Bluetooth-Lautsprecher hört man Spotify-Playlists. Die Menschen auf den Straßen sind mit Kopfhörern in ihr Smartphone versunken und Chris Brown oder Cardi B rappen über Frauen. Zwei völlig verschiedene Welten, mag man meinen. Bei den Top 50 Single-Charts in den USA beider Jahre zeigen sich jedoch spannende Entwicklungen in den Musikdaten.
Eines ist klar: Die durchschnittliche Songlänge ist wesentlich kürzer geworden – und das nicht nur ein paar Sekunden. Während 1980 ein Song in den Charts im Durchschnitt 04:13 Minuten andauerte, ist er vierzig Jahre später nur noch 03:13 Minuten lang.
Natürlich gibt es innerhalb der Jahre auch Lieder, die aus dem Rahmen fallen. Allerdings liegt 2020 selbst der längste Song „Laugh now cry later“ von Drake feat. Lil Durk mit 04:21 Minuten nur knapp über dem Durchschnitt von 1980. Hier war der fast acht Minuten lange Song „Let’s get serious“ von Jermaine Jackson an der Spitze. Doch warum hat sich die Dauer der Songs in den Charts so verändert, dass Lieder teilweise nur noch halb so lang sind?
„Weil sich grundsätzlich das Konsumverhalten geändert hat, vor allem durch Social Media, Spotify und das Skipping-Verhalten“, erklärt Udo Dahmen, künstlerischer Direktor und Geschäftsführer der Popakademie in Mannheim. Auch Simon Obert, musikwissenschaftlicher Mitarbeiter der Paul Sacher Stiftung, einem privaten Forschungsarchiv zur Musik des 20. und 21. Jahrhunderts, sieht einen Zusammenhang dieser Veränderung in den Streaming-Diensten: „Je häufiger eine Aktivität bei einem Song von Spotify festgestellt wird, desto besser funktioniert er.“ Das heißt: Ist ein Song kürzer, kann man ihn auch häufiger hören.
Doch nicht nur die Länge der Lieder hat sich stark verkürzt. Auch die Intros wurden deutlich knapper. Denn Streaming-Dienste wie Spotify mit der Möglichkeit Lieder zu überspringen, prägen das Hörverhalten. Was vor vierzig Jahren mit einem Schallplattenspieler fast unmöglich war, ist nun Alltag. „Innerhalb von zehn Sekunden entscheidet sich, ob man den Song weiterhört. Wenn innerhalb dieser zehn Sekunden nichts passiert, dann zappt der User weiter“, so Udo Dahmen.
Einen möglichen Grund für die heutzutage kürzeren Intros nennt Simon Obert: „Wenn der Song eines bekannten Sängers oder einer bekannten Sängerin angekündigt wird, möchte man nicht lange warten, bis man ihn oder sie endlich hört“. Während es 1980 nur vereinzelt Liedanfänge mit weniger als drei Sekunden gab, sieht das 2020 ganz anders aus: Ein Fünftel der amerikanischen Charts besitzen ein Intro mit (unter) zwei Sekunden. Man kann den Sänger*innen also nicht vorwerfen, dass sie nicht zum Punkt kommen.
Am meisten sticht jedoch das Intro des Songs „Master Blaster“ von Stevie Wonder aus dem Jahr 1980 hervor. Für viele heute unvorstellbar bei einem Chartsong, 56 Sekunden lang auf den*die Sänger*in zu warten und den Instrumenten zu lauschen. Im Gegensatz dazu steht das längste Intro 2020: „Blinding Lights“ von The Weeknd hat gerade einmal 26 Sekunden und ist damit deutlich kürzer.
„Some say love...”
Doch nicht alles hat sich verändert. Ein Aspekt, der die Menschen damals wie heute interessiert, ist das Thema der Songtexte. Dieses war, ist und wird vermutlich auch immer so bleiben – die Liebe.
Die Vermutung liegt nahe, dass sich die Menschen für nichts anderes interessieren. Aber wer möchte in seiner Freizeit, in der man Musik meistens konsumiert, noch mehr über die Probleme der Welt hören?
Udo Dahmen weist darauf hin, dass die Themenmischung auf dem Album-Markt deutlich diverser ist als in den Single-Charts, die hier betrachtet wurden. Dennoch handeln mehr als 50 Prozent der Lieder von Liebe. „Die Single bedient nach wie vor hauptsächlich einen jüngeren Markt“, erklärt der künstlerische Direktor der Popakademie. „Das heißt, wenn ich 12 bis 16 Jahre alt bin, ist „Liebe“ und „Verknallt sein“ wahrscheinlich ein ganz wichtiges Thema.“ Die Top 50 spiegeln also weniger die tatsächliche Themenvielfalt, sondern mehr die Zielgruppe sowie deren Interessen und Vorlieben wider.
Das Sterben der Dinosaurier
In den 80er Jahren bestimmten viele unterschiedliche Labels den Markt. Das Geschäft mit der Musik florierte und Künstler*innen wie Diana Ross und Donna Summer sicherten Firmen wie Motown und Casablanca große Gewinne.
Doch wundert man sich bei Betrachtung der heutigen Charts, wieso Labels wie Elektra, Arista und Sire in der modernen Szene kaum noch auftauchen. Unter Berücksichtigung der heutigen Musikgiganten Sony, Warner Bros. und Universal, welche an fast allen Liedern der Top 50 mitwirkten, liegt die Erklärung nahe: Viele der damals erfolgreichen Labels wurden von den großen Firmen aufgekauft oder verschwanden unter dem finanziellen Druck der Konkurrenz ganz vom Markt.
Eine mögliche Erklärung für diese Entwicklung sieht Dahmen auch in der Veränderung der Musikbranche, da diese enorme Umsatzeinbrüche hinnehmen musste. Eine Stabilisierung habe erst vor vier bis fünf Jahren stattgefunden, was aber eher zugunsten der großen Labels geschehen sei.
Rock ist tot, es lebe der Pop!
Ähnlich verhält es sich auch mit der Abnahme der Popularität diverser Musikgenres. Die 80er als Jahrzehnt der Disco-Musik, des New Wave und Classic Rock lassen mit Einflüssen von Soul, Funk und R’n’B eine größere Vielfalt vermuten als die heutigen Charts. In einer Mischung aus mainstreamigem Pop und Rap findet man nur selten Spuren von HipHop, R’n‘B und Country, während Rock in den Charts fast ausgestorben scheint. Erschreckend bei einem Genre, das 1980 noch etwa zwei Drittel der Hits ausmachte.
Udo Dahmen sieht hier vor allem einen Zusammenhang im zunehmenden Einfluss des Online-Marktes. Die weitere Demokratisierung der Branche durch das Internet vergrößere zwar die Beteiligungschancen verschiedener Künstler*innen, erhöhe aber auch die Mitbestimmung solcher Plattformen. Das heißt: Interpret*innen erhalten beispielsweise durch YouTube die Möglichkeit bekannt zu werden, wodurch sich die Bedeutung eines solchen Mediums aber natürlich auch erhöhen kann.
Dennoch entscheiden sich die großen Drei weiterhin, kleine Independent Labels aufzunehmen. Anscheinend will man auch weiterhin die Nischen und Genres abseits der Charts bedienen, wie auch Simon Obert andeutet. So würden die großen Labels auch aus Gründen der Diversifizierung kleinere Labels integrieren, erklärt er. Es wird also zunehmend deutlich, dass die großen Firmen nicht nur einen Einfluss auf die Vielfalt des Marktes im Allgemeinen, sondern auch auf die Vielfalt der Musikgeschmäcker haben.
Der Kampf der Geschlechter
Man möchte meinen, dass das 21. Jahrhundert mit der Weiterentwicklung des Feminismus auch in der Musikbranche angekommen ist. Hit-Gigantinnen wie Billie Eilish, Ariana Grande oder Meghan Thee Stallion spielen in der Musikindustrie inzwischen eine wichtige Rolle – denkt man zumindest.
Die Überraschung folgt jedoch schnell: Der Anteil an weiblichen Künstlerinnen in den Top 50 hat sich lediglich um eins erhöht. Während die Charts 1980 noch aus 37 männlichen Künstlern und zehn weiblichen Interpretinnen bestanden, erhöhte sich die Zahl 2020 im Vergleich um eine weibliche Künstlerin.
Betrachtet man erfolgreiche Vorgängerinnen aus den 1980ern, wie Donna Summer, Olivia Newton-John oder Barbara Streisand, ist es erstaunlich, dass sich in dieser Hinsicht wenig getan hat. Auch Dahmen und Obert sind von einer solchen Zahl überrascht: „50 Lieder, das ist eine große Zahl. Dass da trotzdem so wenig Frauen vertreten sind, ist schon verwunderlich“, so Udo Dahmen. Er könne aus Sicht des Leiters der Popakademie Mannheim erkennen, dass auch zunehmend weibliche Bewerberinnen als Songwriterinnen und Sängerinnen ihren Schritt in diese Industrie wagen würden. Simon Obert stellt ebenfalls eine hoffnungsvolle Entwicklung in Aussicht: „Die Musikbranche war und ist nach wie vor von Männern dominiert. Ich glaube aber, dass im Laufe der Zeit tatsächlich ein Ausgleich stattfindet oder stattfinden wird.“
Was lehren uns all diese Daten nun? Natürlich könnte man an dieser Stelle sagen, dass früher alles besser war oder eben nicht. Vielleicht war es aber einfach nur anders. Simon Obert sieht es ähnlich: „Man muss sich fragen: Was ist einfach nur eine Veränderung oder steckt darin sogar ein positives Potential? Die Bedürfnisse der Menschen haben sich eben verändert und ebenso die Medien, mit denen sie umgehen.“
Als Datengrundlage diente die Website chartsurfer.de. Diese wurde für die Daten-Analyse ausgewählt, da hier ein nachvollziehbares Punktesystem genutzt wird. Chartsurfer verteilt wöchentlich, auf Basis der Single-Charts des jeweiligen Landes, Punkte, die am Ende des Jahres zusammengezählt werden. So entsteht die jeweilige Platzierung der Top 100 Jahres-Single-Charts.
Quelle Daten Länge des Songs/Intros, Genres und Geschlecht: Spotify
Quelle Daten Lyrics: Genius