Tattoos 5 Minuten

Tattookunst unplugged

Beim Handpoking sind Konzentration und eine ruhige Hand gefragt. | Quelle: Robin Schlachter
12. Dez. 2024

Handpoking ist Tattoo-Handwerk wie zu Ötzis Zeiten, nur ohne Permafrost. Aber warum sind immer mehr Menschen von dieser alten Kunstform fasziniert? Entschleunigung, Präzision und ein Stück Geschichte unter der Haut.

Das Summen der Tätowiermaschine fehlt. Das Werkzeug: Nur eine Nadel. Stich für Stich wird Farbe in die Haut gestochen. Langsam, präzise, fast meditativ. „Am Anfang war es schwierig, die richtige Tiefe zu finden,“ erinnert sich Robin Schlachter. „Zu tief, und die Farbe verläuft. Zu flach, und sie verschwindet wieder beim Heilungsprozess.“

Der Tätowierer erinnert sich an seine ersten Versuche. Der erste Klient: Kunsthaut – gummiartig, nicht wie echte Haut. Doch es war für ihn die günstigste Möglichkeit. Die erste Nadel, die Farbe – alles selbst besorgt. Zuerst übte er an sich selbst, dann an Freunden. Heute, Jahre später, sitzt Robin in dem Studio „Crime College Collective“ in Stuttgart. Handpoking, eine Technik, die ihn nicht mehr loslässt.

Hand vs. Maschine

Denkt man an Tattoos, kommen einem wahrscheinlich zuerst die schrillen Maschinen ins Gedächtnis. Hand und Nadel? Eher nicht. Das Handpoking ist langsamer und beansprucht mehr Zeit. Eben keine Maschine, die die Arbeit abnimmt. Jedoch erlaube Handpoking eine bessere Kontrolle über das Werkzeug, findet Robin. Er versuchte sich auch an einer Tattoo-Maschine, merkte aber schnell, dass es nichts für ihn ist: „Mit Maschine fand ich es schwieriger zu stechen, vor allem, weil ich die Tiefe nicht abschätzen konnte.“ Er bleibt beim Handpoking.

„Mit Maschine fand ich es schwieriger zu stechen, vor allem, weil ich die Tiefe nicht abschätzen konnte.“ 

Robin Schlachter

Laut Robin und seinen Kund*innen ist die Technik auch nicht so schmerzhaft wie mit der Maschine. Für viele eine Überraschung, da oft das Gegenteil vermutet wird. „Viele Kunden sagen immer, Handpoking ist wie Augenbrauenzupfen“, erzählt der Tätowierer. Zudem ist Handpoking sanfter zur Haut: Die Nadel sticht präziser und hinterlässt weniger Gewebetrauma. Das erleichtert nicht nur den Heilungsprozess, sondern sorgt oft für eine angenehmere Erfahrung. Viele kommen zu Robin, gerade weil sie Interesse an der Technik haben. Kein Maschinenlärm, keine Eile, ähnlich zu Akupunktur.

Stich für Stich durch die Geschichte

Die ältesten bekannten Tattoos stammen von Ötzi. Vor rund 5300 Jahren lebte er in den Alpen und trug auf seiner Haut 61 Tätowierungen. Die Motive: Schlichte Striche, Kreuze und Punkte – nichts, was heute auf einer Tattoo-Convention für Begeisterung sorgen würde. Dafür aber funktional: Sie wurden an schmerzenden Körperstellen wie Gelenken oder am Bauch angebracht, möglicherweise als Teil eines Heilungsrituals. Die genaue Technik bleibt unklar. Waren die Tattoos gestochen, oder wurden sie in die Haut eingeritzt? „Das lässt sich heute schwer sagen“, erklärt der Handpoke-Künstler Michael Rüfenacht, der sich intensiv mit der Geschichte dieser Technik beschäftigt.

Eindeutige Handpoke-Tattoos finden sich in der skythischen Kultur, etwa 500 vor Christus. Besonders bekannt sind die Mumien aus dem Gräberfeld von Ukok. Darunter die sogenannte Eisprinzessin von Ukok, deren Körper dank Permafrostboden über 2000 Jahre erhalten blieb. Die Eisprinzessin war wahrscheinlich eine Schamanin, und ihre Tätowierungen dienten nicht nur der Dekoration, sondern symbolisierten vermutlich Status und familiäre Zugehörigkeit.Auf ihrer Schulter findet sich eine filigrane Darstellung eines mythologischer Tieres mit Blumen im Geweih. „Es ist beeindruckend, wie detailliert diese Tätowierungen waren“, so Rüfenacht.

Die Skythen waren ein nomadisches Volk, das zwischen dem 8. und 3. Jahrhundert vor Christus weite Teile der eurasischen Steppe bewohnte. Ihre Kultur erstreckte sich vom Schwarzen Meer bis nach Zentralasien. Bekannt für ihre kriegerischen Fähigkeiten, galten die Skythen als talentierte Reiter und Bogenschützen.

„Es ist beeindruckend, wie detailliert diese Tätowierungen waren.“

Michael Rüfenacht

Im alten Ägypten wurde ebenfalls tätowiert. Archäologische Funde zeigen Tonfiguren schwangerer Frauen mit tätowierten Mustern. Diese sollten wahrscheinlich als Fruchtbarkeits- und Schutzsymbole funktionieren. Häufige Motive waren das Auge des Ra und andere mythologische Zeichen. Eines der ältesten Funde für Tattoos stammt von den ägyptischen Mumien des Gebelein-Mannes und der Gebelein-Frau (ca. 4000 bis 3100 vor Christus). Der Gebelein-Mann trug Darstellungen von Wildrindern oder Berberschafe. Symbole für Stärke und Männlichkeit. Die Gebelein-Frau zierten S-förmige Muster, die mit spirituellen Ritualen in Verbindung stehen könnten.

Selbst die Kelten nutzten bedeutungsvolle Tätowierungen. Sie symbolisierten Status und Mut. Antike Autoren beschrieben keltische Krieger, deren Haut tätowiert war, mit Motiven mythischer Tiere wie Hirsche oder Vögel. Die Römer nannten ein keltisches Volk „Picti“ – „die Bemalten“ – und verwiesen damit auf diese Tradition. Tätowierungen dienten vermutlich auch hier als Teil von Übergangsritualen oder spirituellen Zeremonien. Tätowierer Michael erzählt: „Ich beschäftige mich gerne mit keltischen Motiven – da fühle ich eine Verbindung.“

Eine Tätowierung, inspiriert von einem oberen Ende einer Schwertscheide, welche 300 Jahre vor Christus entdeckt wurde in Bölcske, Ungarn. | Quelle: Michael Rüfenacht
Diese Tätowierung basiert auf einem Rankenmotiv eines Torques (einem verdrehten Arm- oder Halsreif) aus der Champagne in Frankreich, datiert auf 300 bis 400 Jahre vor Christus. | Quelle: Michael Rüfenacht
Diese Tätowierung ist von einem weiteren Rankenmotiv eines Torques, ebenfalls vor 300 bis 400 Jahre vor Christus aus der Champagne in Frankreich, inspiriert. | Quelle: Michael Rüfenacht
Diese Tätowierung ist inspiriert von einem Detail einer Schwertscheide, entdeckt in Bölcske, Ungarn, vor 300 Jahren vor Christus. | Quelle: Michael Rüfenacht
Das Tattoo zeigt das Muster einer Tonschale datiert auf 400 Jahre vor Christus aus Dobricany, Böhmen. | Quelle: Michael Rüfenacht

Früher wurden als Nadeln Vogelknochen genutzt, die in Ruß oder pflanzliche Farbe getränkt wurden. Die Tätowierer galten oft als schamanistische Figuren mit Zugang zu übernatürlichen Kräften. In Polynesien war das Tätowieren ein heiliges Handwerk, dessen Motive mit spiritueller Energie, dem sogenannten Mana, aufgeladen waren.

In Europa gerieten Tätowierungen im Zuge der Christianisierung in Verruf. Was einst Statussymbol und Ritual war, wurde mit Kriminalität, Seefahrern und Gefängnissen assoziiert. Anders in Polynesien: Dort überlebten traditionelle Tätowierungspraktiken bis in die heutige Zeit.

Tod oder Wiedergeburt?

Handpoke-Tattoos sind längst nicht mehr nur ein Nischenphänomen. „Ich denke, Handpoking erlebt gerade ein Revival“, sagt Robin Schlachter. „Tattoos sind allgemein im Trend.“ Laut einer YouGov-Umfrage aus Juli 2021 trägt fast jede vierte Person in Deutschland ein Tattoo, besonders verbreitet ist der Körperkult bei den 25- bis 34-Jährigen, von denen etwa 26 Prozent tätowiert sind. Michael Rüfenacht sieht im aktuellen Interesse auch eine Wertschätzung für alte Werte. „Ich empfinde eine Rückbesinnung auf Natur und Spiritualistik.“ 

Die letzten Punkte werden gestochen. Robin wischt vorsichtig über die Haut, begutachtet sein Werk. Fertig. Die Arbeitsfläche wird gesäubert. Die Nadel, die er eben noch geführt hat, liegt jetzt sicher verstaut. Sein Kunde steht vor dem Spiegel, betrachtet das Tattoo: Klare Linien, gestochen aus unzähligen Punkten. Heute ist Handpoking für Robin Routine, aber keine, die ihre Faszination verloren hat.