„Ich bin kein Gegner von Strukturen. Aber ich finde, dass da oft eine Verwechslung besteht, weil wir meinen, dass Freiheit und Struktur ein Widerspruch ist. Das ist aber kein Widerspruch, das sind unterschiedliche Ebenen. Wir können ja auch frei und selbstbestimmt in Struktur leben.“
Studieren auf eigene Faust
Jedes Jahr im Sommer begibt sich eine neue Gruppe Studierender auf Wanderschaft. Weitab von Uni und Hochschule beschäftigen sie sich mit alternativen Lehrmethoden und der Frage, was sie in ihrem Leben erreichen wollen. Eine Möglichkeit hierzu bietet die Wanderuni, die für Studierende selbstbestimmte Bildungsräume eröffnet. Planung, Organisation und Durchführung erfolgen ausschließlich durch die teilnehmenden Studierenden. Der erste „Studiengang“ der Wanderuni entstand 2015 als Weiterentwicklung der Bewegung Funkenflug. Dabei wanderten Schüler nach Berlin, um Wünsche von anderen Schülern und Lehrern an das Bildungssystem zu sammeln. Emil Allmenröder war einer davon. „Damals haben wir festgestellt, dass wir unterwegs so viel gelernt haben. Und wir haben uns gedacht, warum können wir nicht einfach weiterlaufen und gar nicht mehr zurück an die Uni?“, sagt der heute 26-Jährige. Sein Philosophiestudium brach Emil daraufhin nach dem ersten Semester ab und er gründete die Wanderuni. Er bemerkte schon früh, dass ihn ein konventionelles Studium nicht erfüllt und sucht seitdem nach alternativen Wegen.
Auch Fiona Mohr (24) fand über die Bewegung Funkenflug zur Wanderuni. Anders als Emil hatte sie schon immer einen Bezug zu alternativen Bildungswegen. Sie besuchte eine Montessorischule, die ihre Eltern mitgründeten. Ihr Abi holte sie dann in Berlin nach. Aufgrund ihrer Unzufriedenheit mit der Schule und der Art, wie dort gelernt und gelehrt wurde, entschied sich Fiona für Funkenflug und das Wanderstudium. „Und dann war halt dieses Wandern in Gemeinschaft so krass und dieses Sich-Trauen und größenwahnsinnig zu sein. Diese Selbstwirksamkeit. Dieses Ich-will-was-und-ich-trau-mich-und-es-klappt.”
Alltag der Wanderuni
Im Winter arbeitete Fiona an einem festen Ort und im Sommer schloss sie sich mit Gleichgesinnten wie Emil zu einer Gruppe zusammen, um als Wanderuni ein halbes Jahr durchs Land zu reisen. Dafür wählten sie sich eigenständig ein Thema aus, mit dem sie sich beschäftigten, suchten sich Referenten und organisierten Workshops. Den Alltag teilten sie in drei bis vier Stunden Wandern und drei bis vier Stunden Lernen auf. Emil beschäftigte sich überwiegend mit philosophischen und bildungskritischen Themen und Fiona mit Psychosomatik und Körpertherapie. „Wir haben dann meistens im Freien oder in Gemeindehäusern, Feuerwehrhäusern oder auch in Klöstern übernachtet. Wir haben bewusst keine Zelte mitgenommen. Das ist super spannend, weil man dann jeden Abend neue Leute kennenlernt und mit ihnen ins Gespräch kommt”, sagt Emil. Innerhalb der Gruppe konnten sich Fiona und Emil vor allem der Frage stellen, was sie wirklich im Leben wollen.
Vorteile des freien Lernens
Professor Dr. Frank Thissen, der an der Hochschule der Medien in Stuttgart Lernprozesse und -methoden erforscht, befürwortet das Konzept des freien Lernens. Schüler und Studenten würden dazu getrimmt werden, Wissen zu reproduzieren und Dinge zu tun, die einem ein Lehrender sagt. „Im 21. Jahrhundert können wir uns das nicht mehr leisten, weil wir andere Kompetenzen brauchen als auswendig gelerntes Wissen wiederzukauen.“ Dank Internet könne jedes Problem schnell gelöst werden. Es sei wichtiger, in der Lage zu sein, eigenständig Dinge zu lernen, zu recherchieren, sich mit Sachen selbst auseinanderzusetzen und mit Komplexität klar zu kommen. Klassische Bildungsformen würden heute nicht mehr funktionieren, da die Welt sich so schnell verändert. Emil stimmt dem zu: „Wir leben in einer Gesellschaft, die sich ständig ändert und die Bildung ist dabei der Spiegel der Gesellschaft. Deshalb muss sich auch die Bildung oder die Institution ständig ändern.” Für die Zukunft wünschen sich beide mehr Selbstgestaltung und Mitbestimmung an Universitäten. Schulen und Hochschulen sollten unterstützende Orte des Lernens sein: Makerspaces, Labore oder Begegnungswelten. Dozenten fiele in dieser Bildungsform mehr die Rolle der Forscher, Motivatoren und Mentoren zu.
Angst vor dem fehlenden Abschluss
Momentan sind freie Bildungsformen in Deutschland jedoch noch nicht staatlich anerkannt und für Unternehmen zählt nach wie vor der Abschluss. Deswegen bestehen bei Fiona und Emil immer wieder Zweifel. Letztendlich haben sich beide nach der Wanderuni auch für ein staatlich anerkanntes Studium entschieden. Beide fühlten sich von der Gesellschaft dazu gezwungen. Fiona sagt dazu: „Ehrlich gesagt habe ich den Entschluss zu studieren aus Sicherheitsgründen getroffen. Beim Wandern war das schon eine permanente Frage: Darf ich das hier machen? Wird das anerkannt? Kriege ich dafür Wertschätzung? Ich bin ja in keinem gesellschaftlich anerkannten Kreis.” Ein Studium ist für sie eigentlich nur ein Weg zum Abschluss, um in der Gesellschaft arbeiten zu können.
„Ich habe erlebt, dass ich kein Studium brauche, um tolle Sachen zu lernen.“
Auch Professor Thissen ist dieser Meinung. Der Abschluss selbst sei nicht so wichtig. Bei der Arbeit zählen vor allem andere Kompetenzen wie Kreativität, Sozialkompetenz und Initiative. Viele Berufsfelder seien sehr offen und flexibel. Allerdings betont er auch, dass in Deutschland der Abschluss für eine erfolgreiche Bewerbung noch Voraussetzung sei.
Derzeit studiert Fiona Theatertherapie in Nürtingen. Emil macht ein Fernstudium in Philosophie und Geschichte und befasst sich währenddessen weiterhin mit alternativen Bildungskonzepten. Beide sind der Meinung, dass man Erfolg mit dem haben kann, was man gerne macht. Professor Thissen fasst zusamnmen, Schulen und Hochschulen müssten mehr Raum für intrinsische Motivation bieten: „Wenn mir Dinge Spaß machen und das mein Ding ist, bin ich auch gut darin.”