Hochsensibilität

Das Sensibelchen in mir

Der Trubel des Alltags kann für Hochsensible Stress bedeuten.
21. Febr. 2019

Wenn man mehr fühlt: Hochsensible Menschen nehmen ihre Umgebung und sich selbst intensiver wahr. Diese Veranlagung erfordert Beachtung, um ihr Potential entfalten zu können. Doch welchen Platz findet Hochsensibilität in unserer Gesellschaft?

Ich bemerke alles:  Blicke, die zugeworfen werden. Gefühle, die sich hinter Fassaden verbergen.  Über die Bedeutung eines Tattoos habe ich schon nachgedacht, bevor es anderen überhaupt auffällt.  Ich bin niemand, der sich gerne ins Getümmel stürzt oder bei Konzerten in die erste Reihe quetscht. Aber vor allem scheint mein Herz vor Gefühlen manchmal zu platzen: Tränen kullern schnell, wenn ich glücklich oder traurig bin oder wenn andere es sind — und sei es nur in einem Film. Ungerechtigkeiten wiegen manchmal schwer wie Blei auf mir, über kleinste Details kann ich mir den Kopf zerbrechen. Mein Tag hat nicht genügend Stunden, um alle Gedanken zu Ende zu denken und so begleiten sie mich in meine Träume.

Ich fand keinen Namen für das, was an mir anders ist. Bis ich auf etwas stieß, das vieles erklären würde: Hochsensibilität. Es könnte sein, dass ich meine Umgebung und Gefühle so intensiv spüre, weil ich mehr wahrnehme als andere. Und dass es eine Gabe sein kann und keine Belastung sein muss.

Also begebe ich mich auf die Suche nach einem Phänomen, das so am Rande unserer Gesellschaft steht, dass es kaum einer zu kennen scheint — und ein bisschen auf die Suche nach mir.

Hochsensible Menschen reagieren stärker auf externe Reize wie Geräusche und auf innere Reize wie Gefühle. Der Ursprung wird in der Hirnregion Thalamus vermutet, welcher für die Filterung eingehender Reizsignale verantwortlich ist. Bei hochsensiblen Personen ist dieser Filter schwächer. Weil sie Signale dadurch intensiver wahrnehmen, kommt es in reizintensiven Situationen schneller zu einer Überlastung.

Tamara erlebt das jeden Tag. Die 48-Jährige ist hochsensibel. 15 bis 20 Prozent der Menschen sollen laut Psychologin Elaine Aron eine „Highly Sensitive Person“ (HSP) sein. Nicht selten wissen Hochsensible gar nicht davon. Viele fragen sich lange, was mit ihnen nicht stimmt, warum sie sich vorkommen wie von einem anderen Stern: „Ich habe mich schon immer wie ein Alien gefühlt“, erzählt Tamara. „Alle waren in Ordnung — nur ich nicht.“ Sie sei zu empfindlich, sagte man ihr. In der Gesellschaft fand sie keinen Platz.

Anfangen zu leben

Wir sitzen im Café eines großen Einkaufszentrums. Um uns herum wuseln Menschen und Lichter blinken. Die Bank, auf der Tamara sitzt, wird vom Trubel mit einer Rückwand abgeschirmt. Sie freut sich über die kleine Nische. Sie erzählt, dass sie nicht mit der Bahn hierherfahren könnte. Zu sehr belasten sie dort die Gerüche. So geht es Tamara im Alltag oft: „Ich bemerke, wenn die gewaschene Bettwäsche nicht gleich aus der Maschine genommen wurde und rieche jedes einzelne Parfum meiner Kolleginnen im Büro.“ Das verursacht Kopfschmerzen und ihr wird übel.

Dass Tamara hochsensibel ist, hat sie erst Ende 2016 erkannt. Nach familiären Problemen und dem Tod ihrer Mutter im Jahr zuvor fiel sie in ein tiefes Loch. In einer verordneten Therapie kommt sie zum ersten Mal in Berührung mit dem Thema Hochsensibilität. Mit einem Leuchten in den Augen erzählt sie davon: „Ich dachte: Das hat ja einen Namen! Ich bin doch normal, ich bin doch ein Mensch.“ Seitdem hat Tamara ein anderes Verhältnis zu sich selbst, denn sie kann sich akzeptieren: „Erst da habe ich angefangen zu leben.“

Elaine Aron beschrieb die­­­ Veranlagung Mitte der 90er Jahre erstmals wissenschaftlich und gilt als Pionierin auf dem Gebiet. Die Studien und Erkenntnisse der amerikanischen Psychologin zählen zur Grundlage für alles, was danach kam. Das ist rund 20 Jahre her – die Forschung steckt seitdem in Deutschland immer noch in den Kinderschuhen, steigt aber an. Vermutlich blieb Hochsensibilität lange unbekannt, da es von der Wissenschaft nicht ernst genommen wurde und ist deshalb noch nicht in allen Details erfasst.

Wenn man mehr fühlt

Wenn Tamara an überfüllten, lauten Orten ist, fühlt sie sich unwohl. Auf Weihnachtsmärkten oder in Bahnhöfen prasseln zu viele Eindrücke auf sie ein. Ist sie überfordert, reagiert sie hektisch und gereizt. Auch eine passende Wohnung zu finden, ist für sie eine Herausforderung: Straßenlärm oder das Brummen der Heizung sind auch nach Jahren so präsent wie am Anfang, weil sie sich nicht daran gewöhnt.

Tamaras Beschreibungen kommen mir teilweise bekannt vor. Auch ich bin froh, aus dem dichten Getümmel eines Bahnhofs zu schlüpfen und überfüllte Bars machen mich müde. Trotzdem: Ich kann den Trubel der Stadt auch genießen. Für mich sind diese Situationen deutlich weniger anstrengend als für Tamara und wirken auch nicht lange nach. Ich schließe daraus, dass ich alles emotionaler erlebe, statt überdurchschnittlich auf äußere Reize zu reagieren.

Hochsensibilität drückt sich bei jedem Menschen anders aus, kann stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Viele teilen aber auch Merkmale miteinander: HSP haben oft einen guten Blick für Details wie Farben und Formen. Daraus kann sich eine Form von Perfektionismus entwickeln, eine Suche nach Harmonie und Schönheit. Das Streben nach Harmonie reicht auch oft bis in zwischenmenschliche Beziehungen: Konflikte sind schwer zu ertragen.

Hochsensible versuchen, Fehler zu vermeiden, sie gelten als gewissenhaft und empathisch. Sie verabscheuen Gewalt und erleben Phasen eines Weltschmerzes. HSP neigen dazu, über Alltagserlebnisse mehr nachzudenken und erleben alles emotionaler. Daher kann Kunst oder Musik sie tief berühren. Nicht selten haben sie auch Hochbegabungen. Entscheidungen fallen jedoch schwer und zu viele Aufgaben überfordern. Sogenannte High Sensation Seeker suchen hingegen immer nach neuen Erfahrungen und starken Eindrücken.

HSP können schmerzempfindlicher sein sowie überdurchschnittlich intensiv auf Koffein oder Alkohol reagieren. Hunger und Unterzuckerung beeinträchtigen die Konzentration und das emotionale Befinden stark.

Die Forschung geht davon aus, dass Hochsensibilität eine angeborene Persönlichkeitseigenschaft ist, wie die Augenfarbe. Rückblickend sehe ich es daher in einem anderen Licht, warum ich schon als Kind über den Sinn des Lebens grübelte und meinem Hasen an Silvester beruhigende Worte zuflüsterte, um ihr die Angst zu nehmen. Denn wenn Tiere leiden, leide ich auch heute noch mit.

Der Alltag als Hürdenlauf?

Während wir im Getümmel des Einkaufszentrums sitzen, wird Tamara im Laufe des Gesprächs ruhiger. Sie nimmt die Brille ab und reibt sich mit gerunzelter Stirn über die schmerzenden Augen. Da sie viele Informationen aus der Umgebung erfasst, ist die Situation für sie kräftezehrend. Um sie herum nimmt Tamara in diesem Moment vieles wahr: Die Frau links hinter uns spricht lauter als die Person daneben, die spielenden Kinder in der Nähe findet sie anstrengend. Über ihre Erkältung ist sie in dieser Situation froh, denn sie erspart ihr viele unangenehme Gerüche. „Normalerweise meide ich solche Orte“, sagt sie. Wenn es nicht anders geht, bahnt sie sich wie mit Scheuklappen den Weg und versucht alles andere auszublenden.

Die Hände schwitzen, der Puls rast: Bei Überreizung kann es zu einer Reaktion des Körpers kommen, beispielsweise in Form von Kopfschmerzen oder Müdigkeit. Chronische Übererregung kann unter anderem auch zu Schlafstörungen führen. Hochsensible sind zudem anfälliger, unter Stress oder einem Burnout zu leiden.

Doch Tamara hat sich ihr persönliches Survival-Kit für den Alltag geschnürt. Eines ihrer wichtigsten Hilfsmittel sind Kopfhörer, die Umgebungsgeräusche schlucken. Damit schirmt sie sich von Lärm ab, zum Beispiel wenn sie arbeitet. In ihren Alltag baut sie außerdem immer wieder Ruhepausen ein, um sich zu erholen. „Die Natur ist dafür mein liebster Kraftort“, sagt sie. Zudem bieten ihr Sport oder kreative Arbeit einen Ausgleich. Genug Schlaf macht sie weniger angreifbar für Überreizung. Laut Studien wirkt geistiges Training besonders effektiv und auch körperliche Betätigung kann depressive Verstimmungen deutlich verringern.

Vor unserem Gespräch hat Tamara provisorisch eine Tablette gegen Migräne eingenommen. „Am Abend werde ich meditieren, um einschlafen zu können“, sagt sie. Etwa zwei bis drei Tage wird es dauern, bis sie sich von diesen zwei Stunden Überreizung erholt hat. Seit sie von ihrer Hochsensibilität weiß, kann sie besser mit ihren Bedürfnissen umgehen.

Das Besondere erkennen

Hochsensibilität lässt sich schwer in Muster pressen oder von außen erkennen. Unter anderem deswegen, weil laut Psychologin Elaine Aron rund 30 Prozent der HSP extrovertiert sind. „Inzwischen gibt es einen wissenschaftlich validierten Test auf Deutsch, mit dem sich Hochsensibilität einfach feststellen lässt. Zahlreiche Selbsttests können einen ersten Anhaltspunkt bieten“, sagt Anna Rehm. Sie ist psychologische Beraterin für hochsensible und hochbegabte Menschen.  

Auch die Grenzen zu Krankheiten scheinen fließend. Hochsensibilität ist jedoch keine Krankheit. Auf neurologischer Ebene unterscheidet es sich klar von Autismus oder psychischen Störungen wie Schizophrenie. Psychologen müssen das Persönlichkeitsmerkmal trotzdem gut kennen, um es von Krankheiten abgrenzen zu können, sagt Anna Rehm.

Kritiker sehen im Begriff Hochsensibilität eine Umschreibung für einen neurotischen oder emotional instabilen Charakter. Facetten dieser Merkmale können zwar übereinstimmen, es gebe aber beispielsweise auch emotional besonders stabile Hochsensible, sagt Psychologin Sandra Konrad der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Über die höhere Wahrscheinlichkeit, unter nicht förderlichen Bedingungen beispielsweise an einer Depression zu erkranken, existieren zudem unterschiedliche Studien.

Hochsensibilität als Gabe

Häufig sehen HSP ihr Persönlichkeitsmerkmal als Belastung an: Sie haben zu wenige Kenntnisse darüber und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen. Auch das Umfeld wertet ihre Eigenschaften oft ab. „Eine hohe Sensibilität wird in westlichen Ländern leider oft nicht wertgeschätzt. Beispielsweise in Japan ist das anders: Dort haben diese Menschen einen hohen Stand in der Gesellschaft“, sagt Anna Rehm. Hochsensibilität gebe es schon immer, in unserer leistungsorientierten Gesellschaft falle sie aber mehr auf, weil sie nicht der Norm entspreche.

Zu Anna Rehm kommen überwiegend Personen, die als HSP Probleme im beruflichen Bereich haben. Weniger offensichtlichere Qualitäten von Hochsensiblen können auch im Beruf von hohem Wert sein: Empathie kann das Wohlbefinden einer Gruppe steigern, Kreativität die Arbeit bereichern und eine gute Intuition sorgt dafür, Trends und Gefahren frühzeitig zu erkennen.

Anna Rehm will den Menschen in ihrer Beratung helfen, die eigene Hochsensibilität als Stärke zu sehen. Sie empfiehlt, sich damit auseinanderzusetzen und zu lernen, mit Schwächen umzugehen. Ein stärkendes Umfeld ist dabei wichtig und auch der Austausch mit anderen HSP kann helfen, sich zu entfalten.

Tamara kann ihre Empfindsamkeit und den holprigen Weg zu dieser Erkenntnis heute annehmen: „Jede schlimme Erfahrung bringt auch etwas Gutes mit sich“, sagt sie. Das Wissen, hochsensibel zu sein, hilft ihr dabei, positiv zu denken. Durch ihre persönlichen Hilfsmittel, Momente des Rückzugs und Strategien im Umgang mit anderen schlängelt sie sich ihren Weg durch den Alltag. „Ich kann mein Leben genießen“, sagt sie, „und habe meinen Platz gefunden.“

Hochsensibilität kann eine große Gabe sein, das habe ich verstanden. Selbst wenn meine Gedankenwelt etwas komplex sein mag — ich kann lernen, damit umzugehen. Denn so sehr Hochsensibilität als Gabe verstanden werden kann, muss man ihr die nötige Beachtung schenken. Eine Veranlagung wird erst zur Fähigkeit, wenn man sie nutzt und formt.