Damals habe ich monatelang mein Zimmer aufgeräumt, um meine Eltern von meinem Durchhaltevermögen zu überzeugen.
Schulweg mit Hindernissen
Es ist 6.45 Uhr an einem kalten Dezembertag und die ersten Schneeflocken liegen vor dem Fenster von Jessica Czech. Noch schlafen die achtzehnjährige Schülerin und ihre jüngere Schwester. Die Geschwister teilen sich ein Zimmer. Damit gerade genügend Platz für die Schreibtische und das gemütliche Sofa bleibt, schlafen die beiden in Hochbetten. Doch jetzt: Cello-Klänge. Jessicas Wecker klingelt. Um den sanften Walzer-Klingelton auszuschalten, klettert sie noch etwas verschlafen die kleine Leiter herunter. Jessica steht kurz vor dem Abitur. Beim Frühstück schaut sie sich daher noch einmal die Karteikarten für ihre bevorstehende Physik-Präsentation an.
Jessicas Eltern haben keinen akademischen Abschluss. Dennoch will sie studieren. „Früher habe ich immer gesagt, ich will Forscherin werden“, erzählt sie. Da habe ihr jemand gesagt, dass man dafür Abitur machen und studieren sollte. „Dann mach ich das einfach“, hat sie sich damals gedacht. Selbstverständlich ist das allerdings nicht.
Soziale Herkunft entscheidet über Bildungserfolg
Denn die soziale Herkunft entscheidet in Baden-Württemberg immer noch über den Bildungserfolg. Während in Deutschland von 100 Nichtakademikerkindern nur 27 ein Studium beginnen, sind es bei Akademikerkindern 79. Jessica will es an die Universität schaffen und ist auf dem besten Weg dorthin.
Damit auch weiterhin alles gut läuft, schnappt sie ihren vollbepackten Schulranzen und geht los. Eigentlich nur einen Katzensprung von zu Hause entfernt liegt Jessicas Grundschule auf ihrem Schulweg. Schon im frühen Kindesalter entstehen die ersten Ungleichheiten.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend schreibt dazu in einer Broschüre: „Bereits bei Kindern im Alter von drei Jahren wurden Kompetenzunterschiede in Abhängigkeit vom familiären Hintergrund festgestellt.“
Doch was bedeutet das? Der Bildungsforscher Holger Bargel erklärt das etwas anschaulicher: „Wenn ich Eltern habe, die mir nicht vorlesen, dann nehme ich sprachlich weniger mit.“ Anderen Kindern hingegen wird genug vorgelesen. Die Eltern spielen mit ihren Kindern zum Beispiel auch Lernspiele. „Das ist dann ein ganz anderer Input und der zeigt sich bestimmt auch schon mit drei Jahren.“
Jedes fünfte Kind schafft Mindeststandards nicht
In den Grundschulen zeigt sich die soziale Ungerechtigkeit daher schon früh: Fast jedes fünfte Kind in Baden-Württemberg schafft die Mindeststandards in Deutsch und Mathematik nicht. „Es ist von vorneherein ein System, das nur in eine Richtung läuft“, findet Bargel.
Die baden-württembergische Kultusministerin Theresa Schopper kennt das Problem. „Die jüngsten Bildungsanalysen haben gezeigt, dass es vor allem auf die Förderung von Basiskompetenzen ankommt“, sagt sie dem edit.Magazin. Daher will die Politik die frühkindliche Bildung noch mehr in den Blick nehmen.
Am Ende der Grundschulzeit erwartet die Schüler*innen und ihre Eltern dann die Grundschulempfehlung. Jessica erinnert sich noch ganz genau an damals: „Ich habe die Gymnasialempfehlung bekommen, aber meine Mutter wollte mich erst nicht aufs Gymnasium lassen.“ Die Nachrichten hätten zu der Zeit viel vom Leistungsdruck und dem neueingeführten achtjährigen Gymnasium berichtet. Jessicas Eltern kommen aus Polen und kennen das baden-württembergische Schulsystem nicht aus ihrer eigenen Erfahrung. Einige mögliche Bildungswege waren ihnen deshalb gar nicht bekannt.
„Meine Eltern wussten nicht, ob ich das Gymnasium schaffen werde“, sagt Jessica. „Damals habe ich monatelang mein Zimmer aufgeräumt, um meine Eltern von meinem Durchhaltevermögen zu überzeugen.“
Bargel erklärt: „Man geht lieber den Weg, den man kennt.“ Um dieser Unsicherheit der Eltern vorzubeugen, will die Kultusministerin das Beratungsangebot stärken. „Wir möchten den Eltern noch mehr Informationen für die Entscheidung beim Wechsel auf die weiterführende Schule zur Verfügung stellen“, sagt Schopper dem edit.Magazin.
Doch auch andere Hürden sind groß. „Nachhilfe hätten wir uns nicht leisten können“, erzählt Jessica. Außerdem gebe es in ihrer näheren Familie niemanden, der sie mit eigenen Erfahrungen unterstützen könnte. „Meine Eltern und meine Großeltern haben alle nicht studiert.“ Der polnische Schulabschluss ihrer Mutter wird in Deutschland nicht einmal anerkannt.
Jessicas Mutter kümmert sich zu Hause als Pflegeperson um die jüngere Schwester. Denn Jessicas Schwester hat einen komplexen Herzfehler. Sie muss Medikamente nehmen und hat ab und zu Gedächtnisprobleme.
Trotz all der Herausforderungen hilft Jessicas Familie ihr, so oft es geht. „Ich hatte immer so viele Bücher wie ich wollte“, erzählt sie. Auch ihre Nachbarin Frau Mannek hat sie auf ihrem Weg unterstützt. „Sie hat mir oft spannende Zeitungsartikel rausgesucht und mir in den Briefkasten geworfen.“ Viele andere Arbeiterkinder bekommen eine solche Unterstützung nicht.
Alle diese Hürden sorgen dafür, dass Arbeiterkindern die Chancen auf einen erfolgreichen Bildungsweg deutlich erschwert werden. International steht Deutschland damit nicht so gut da: Eine Studie von Unicef zeigt, dass Deutschland bei der Bildungsgerechtigkeit im Vergleich mit anderen EU- und OECD-Ländern nur auf Platz 23 von 41 liegt.
Inzwischen ist es schon kurz vor acht. Jessica stapft weiter auf dem Gehweg durch den Schnee. Jetzt muss sie nur noch die große Straße überqueren und ein letztes Mal abbiegen. Dann steht dem Schultag und der Physik-Präsentation nichts mehr im Wege.
Pandemie verschärft die Ungleichheit
Die Corona-Pandemie hat die Hürden für Arbeiterkinder noch weiter verschärft. „In der Pandemie wurden das häusliche Umfeld und der Input der Eltern noch wichtiger“, erklärt Bargel. Es wurden Lernlücken gerissen. Die Kultusministerin Schopper will die Lücken mit dem umfangreichen Aufholprogramm „Lernen mit Rückenwind“ schließen.
Freilich liegt aber noch ein weiter Weg vor uns.
„Freilich liegt aber noch ein weiter Weg vor uns“, erklärt sie. Auch für Jessica waren die Homeschooling-Phasen eine Herausforderung. Denn sie teilt sich ihr Zimmer mit ihrer kleinen Schwester. „Meine Eltern geben sich immer Mühe, dass wir einen ruhigen Platz zum Lernen haben, aber man geht sich schon ab und zu auf die Nerven“, findet sie.
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Die Schüler*innen drängeln sich kurz vor Schulbeginn in das Schulgebäude. Jessica ist inzwischen angekommen. Nicht nur den Schulweg hat sie gemeistert, auch ihr Abitur kann sie bald in den Händen halten. Doch was kommt danach?
„Es hat sich so herauskristallisiert, dass Physik meine Berufung ist“, sagt Jessica lächelnd. Nach dem Abitur will sie sich in Stuttgart für Physik einschreiben. Doch die Finanzierung eines Studiums ist gar nicht so leicht. Deshalb will sich Jessica auf ein Stipendium bei der Heinrich-Böll-Stiftung bewerben.
Gemeinnützige Organisation unterstützt Jessica
Unterstützt wird sie bei ihrer Bewerbung von arbeiterkind.de. Die gemeinnützige Organisation ist eine von vielen, die ehrenamtlich Arbeiterkindern mit geeigneter Qualifikation den Bildungsaufstieg erleichtern will. „Ich werde beraten, wo ich mich bewerben kann und habe ein Stipendien-Mentoring bekommen“, erzählt Jessica.
Solche Beratungsangebote sind viel wert. „Man braucht einen klaren Informationsfluss, damit die Informationen an die Betroffenen kommen“, findet Bildungsforscher Bargel. Denn auch die bürokratischen Hürden, zum Beispiel bei BAföG-Anträgen sind teilweise sehr hoch. „Man muss eine dicke Haut haben, um da durchzublicken“, sagt Bargel. Gerade deshalb kommt er zu einem Fazit: „Informationen müssen leichter zugänglich werden.“
Jessica hat sich auf ihrem Weg trotz der Hürden bis zum Studium durchgekämpft. „Ich bin gespannt, was mich in der Zukunft so erwartet“, sagt sie und verschwindet pünktlich für ihre Physik-Präsentation im Klassenzimmer.