„Es sind auch einfach nur Kinder, wie alle anderen Kinder auch. Sie haben Spaß, streiten sich, lenken sich gegenseitig ab und schenken mir nicht immer Aufmerksamkeit.“
Stille im Klassenzimmer: Hörend unter Gehörlosen
Es ist Freitag 13 Uhr, die Schulglocke klingelt. Kinder stürmen hektisch und aufgeregt aus der Schule, über den Pausenhof, bis hin zum Ausgang. Das Strahlen in ihren Gesichtern ist nicht zu übersehen, denn es ist endlich Wochenende. Rund zehn Kleinbusse stehen vor dem Eingang zum Gebäude, bereit die Kinder nach Hause zu bringen. Wenige Minuten später verfliegt die Unruhe, die Sonne scheint und der Anblick des Schulkomplex weckt Erinnerungen an die eigene Grundschulzeit. Bunte Zeichnungen auf dem Boden, der große Pausenhof mit genug Platz zum Austoben und auf den ersten Blick scheint diese Schule gar nicht so anders als eine Regelschule.
Ein fröhliches „Hallo“ hallt aus dem oberen Stockwerk über den Innenhof. Sandra steht auf dem Balkon ihres Klassenraumes. Als Referendarin unterrichtet sie eine Klasse mit neun tauben Kindern, sie selbst ist hörend. Schon während der Oberstufe nahm sie sich fest vor, die Gebärdensprache zu lernen. „Viele denken immer, dass man durch persönliche Umstände oder Betroffene in der Familie und im Bekanntenkreis zur Gebärdensprache kommt, doch bei vielen meiner Kolleg*innen und bei mir war das nicht so. Ich fand es spannend, die Gebärdensprache zu lernen und mit Kindern zu arbeiten, weshalb ich dann begonnen habe, Gehörlosenpädagogik zu studieren“, berichtet sie mit einem Lächeln im Gesicht. Eine Studienwahl wie jede andere eben auch. Wobei sie sich zuerst nicht ganz sicher war, ob sie später einmal als Lehrerin arbeiten wollte. Sie lacht und ihr Blick wandert durch das Klassenzimmer, in dem sie heute unterrichtet. Bilder der Kinder, bunte Zeichnungen, aber auch Lernhilfen zieren die Wände des Raumes, es wird deutlich: hier wird fleißig gelernt.
Im Rahmen des Studiums wurde wenig Gebärdensprache gelehrt. In ihrer Freizeit besuchte Sandra deshalb Gebärdensprachkurse, um ihren Wortschatz zu erweitern, doch das reichte ihr nicht. „Ich hatte auch nach vielen Sprachkursen nicht das Gefühl, sicher gebärden zu können. Daher fing ich an, zusätzlich Dolmetschen in Gebärdensprache zu studieren“, erzählt Sandra. Das Studium zur Gebärdensprachdolmetscherin qualifiziert sie, zwischen gehörlosen und hörenden Menschen zu übersetzen. Im Anschluss an das Studium arbeitete Sandra knapp zwei Jahre als Dolmetscherin, bis sie das Referendariat am Förderzentrum Hören in München begann.
Deutsche Gebärdensprache (DGS)
Gebärdensprachen sind visuell-manuelle Sprachen. Dabei bildet man Worte mit den Händen, aber auch der Gesichtsausdruck (Mimik), die Bewegung des Mundes (Mundbild), und „Geräusche“ (Wortbild) haben einen Einfluss auf die gebärdeten Worte. Gebärdensprachen verfügen über einen breiten Wortschatz und eine ausgeprägte Grammatik, die sich von der gesprochenen Sprache unterscheidet. Die DGS ist die in der deutschen Gehörlosengemeinschaft entstandene Sprache und entwickelt sich, wie die deutsche Sprache, immer weiter. Auch verfügt sie bundesweit über verschiedene Dialekte. Außerdem gibt es keine internationale Gebärdensprache – diese ist in jedem Land individuell.
Quelle: https://www.gehoerlosen-bund.de/faq/deutsche%20gebärdensprache%20(dgs)
Förderzentrum Hören
Das Förderzentrum mit Förderschwerpunkt Hören in München ist eins von insgesamt sechs Zentren in Bayern und bietet aktuell rund 280 Kindern aus Oberbayern eine an ihre Behinderung angepasste Bildung. Je nach individueller Sprachentwicklung, Hörstatus und Kommunikationsmöglichkeit werden die Kinder in fünf Sprachlerngruppen eingeteilt. Insgesamt werden fünf Jahrgangsstufen (1/1A/2/3/4) in der Grundschule betreut.
In dem Gebäude unmittelbar daneben befindet sich die Mittelschule, in der fünf weitere Jahrgangsstufen unterrichtet werden. Nach dem Qualifizierenden Abschluss der Mittelschule haben die Jugendlichen dann die Möglichkeit, über den M-Zug ihre Mittlere Reife zu machen. Eine andere Option ist die Berufsschule des Förderzentrums. Hier können die Schüler*innen eine Berufsausbildung erlernen. Da das Einzugsgebiet sehr weitläufig ist, gibt es ein für Förderzentren typisches Internat.
Gehörlos, stumm, taubstumm – die richtigen Begrifflichkeiten
Der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. bemüht sich, die Öffentlichkeit über die richtigen Begrifflichkeiten aufzuklären. Leider gebrauchen hörende Menschen immer wieder den Begriff „taubstumm“, auch in den Medien taucht das Wort ständig auf. Viele gehörlose Menschen empfinden den Begriff jedoch als diskriminierend, da sie keinesfalls stumm sind. Sie können in Gebärdensprache kommunizieren oder auch sprechen. Es werden die Begriffe „gehörlos“ oder „taub“ verwendet. Wobei die Bezeichnung „taub“ immer beliebter wird, da sie keine Negativ-Beschreibung darstellt.
Sandra unterrichtet eine gehörlose Klasse mit Kindern der Klassenstufe drei und vier. „Wir sind eine bilinguale Klasse, das entspricht der Sprachlerngruppe vier“, erklärt Sandra. Das bedeutet, dass als Unterrichtssprache die deutsche Gebärdensprache (DGS) genutzt wird, die Kinder fünf Jahre zur Grundschule gehen und danach entweder eine weiterführende Schule oder die Mittelstufe des Förderzentrums besuchen können. Viele ihrer Kinder haben die DGS als Muttersprache gelernt. Die deutsche Schriftsprache lernen sie als Zweitsprache – das umfasst alles von Grammatik, über Wortschatz bis hin zum Satzbau. Ein Blick durch den Klassenraum verrät den bilingualen Ansatz - Möbelstücke, Unterrichtsmaterialien, die Monate des Geburtstagskalender – alles wurde mit dem deutschen Wort sowie einer Gebärdenillustration beschriftet. Auch die Sitzordnung fällt auf: Die Tische und Stühle der Kinder sind im Halbkreis zur Tafel angeordnet, sodass sie sich sehen können, um Gebärden zu verstehen. Auch jede Lehrkraft hat einen Stuhl vor der Klasse, um auf Augenhöhe der Kinder gebärden zu können.
Sandra lacht und erinnert sich an eine Geschichte aus dem letzten Schuljahr: An einem Morgen wünschten sich die Kinder ihre Tische umstellen zu dürfen. „Wie in den amerikanischen Highschools wollten sie in Reihen sitzen“, erinnert sich Sandra lachend. „Es dauerte einige Minuten bis den Kindern auffiel, dass sie, um zu kommunizieren, sich sehen müssen. Wir ließen die Tische dann an Ort und Stelle“, schmunzelt Sandra.
Um die Aufmerksamkeit der Kinder zu gewinnen, hat sie ihre eigenen Techniken: „Entweder stampfe ich ganz fest auf den Boden, sodass die Kinder es spüren oder ich betätige den Lichtschalter, um das Licht einmal kurz an- oder auszuschalten“, erklärt sie. „Es sind auch einfach nur Kinder, wie alle anderen Kinder auch. Sie haben Spaß, streiten sich, lenken sich gegenseitig ab und schenken mir nicht immer Aufmerksamkeit“, erzählt die Referendarin aus ihrem Arbeitsalltag. Die wesentliche Herausforderung für Sandra sei jedoch, sich in die Kinder hineinzuversetzen und zu verstehen, wie sie lernen. Als hörende Menschen lernen wir von klein auf, uns auszudrücken, indem wir unserem Umfeld zuhören. Wir erkennen zusammenhängende Buchstaben, da wir das Wort schon einmal gehört haben. „Ich muss mich dann oft selber stoppen, den Blickwinkel ändern und mich daran erinnern, von der Gebärdensprache auszugehen“, erläutert Sandra.
Fördern Förderzentren die Inklusion?
Der Deutsche Gehörlosen-Bund e.V. definiert Inklusion für Gehörlose und Hörgeschädigte als Barrierefreiheit, Chancengleichheit, gleichberechtigte Teilhabe und Selbstbestimmung in Bezug auf alle Bereiche des Alltags. Sandra beschreibt Inklusion als ein gesellschaftliches Thema: „Inklusion fängt in den Köpfen der Menschen an.“ Die Frage hinsichtlich schulischer Inklusion tauber Kinder ist: Was ist aktuell möglich und allem voran wie förderlich ist das Konzept von getrennten Schuleinrichtungen für die Kinder selbst?
„Inklusion fängt in den Köpfen der Menschen an.“
Es gibt taube Kinder, die eine Regelschule mit einem*r Dolmetscher*in besuchen und zusätzlich regelmäßig vom mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) betreut werden. Sandra meint, viele Kinder kommen wieder zurück – denn es sei oftmals die soziale Komponente im Umgang der Kinder untereinander, die den Einstieg in eine Regelschule erschwere.
Wichtig ist es, die soziale Entwicklung der Kinder nicht zu vergessen. „Wie schafft man den Kontakt zu anderen Kindern und stärkt so das soziale Miteinander?“, fragt Sandra. Eine umfassende gute Bildung ist die Voraussetzung, dass sich Gehörlose und Hörgeschädigte auch später aktiv an der Gesellschaft beteiligen können. Der Unterricht an den Förderzentren Hören orientiert sich an dem Lehrplan für Regelgrundschulen. „Ich habe den Eindruck, dass die Kinder hier gerne zur Schule gehen und lernen, sich für ihre Wünsche und Bedürfnisse stark zu machen. Erst zum Beginn des Schuljahres haben die Kinder gemeinschaftlich beschlossen, im Sportunterricht alle Hörgeräte und Implantate abzulegen, da es im Profisport und in den Sportvereinen auch so ist.“, erzählt Sandra begeistert. Hörgeräte werden etwa abgelegt, um gleiche Bedingungen für alle zu schaffen, aber auch um die Geräte zu schützen und Verletzungen zu vermeiden.
Nach zwei abgeschlossenen Studienfächern und ihrem Berufswechsel beschreibt Sandra das Referendariat als eine anstrengende, aber besondere Situation: „Ich liebe die Arbeit mit den Kindern, die Möglichkeit, sie individuell zu fördern und auf sie einzugehen. Außerdem freue ich mich darüber, täglich in Gebärdensprache unterrichten zu dürfen und mich nun endlich sicher darin zu fühlen.“
*Der Name der Protagonistin wurde nachträglich von der Redaktion geändert.
Dieser Beitrag ist innerhalb eines Dossiers anlässlich des Internationalen Tags für Menschen mit Behinderung, am 03.12.2022 entstanden. In diesem Dossier sind weitere spannende Beiträge zum Leben von Menschen mit Behinderung entstanden, zum Beispiel: