„Struktur ist ein wichtiger Punkt, an dem ich immer noch arbeite und wahrscheinlich auch mein Leben lang arbeiten werde.“
In Rente mit 21
Nach zehn bis zwölf Stunden Schlaf fühlt sich Annika Hoffmann so als hätte sie gar nicht geschlafen. Der Grund dafür ist ein chronisches Erschöpfungssyndrom. Mit 20 Jahren hat sie die Diagnose für das Symptom von Multiple Sklerose, einer Erkrankung des Zentralen Nervensystems, bekommen. Seit sieben Jahren ist Annika deshalb berufsunfähig und Rentnerin – dabei ist sie erst 28 Jahre alt.
„Berufsunfähig sind Versicherte, die aus gesundheitlichen Gründen weder im erlernten noch in einem zumutbaren Beruf halb so viel leisten und verdienen können, wie andere Berufstätige mit ähnlicher Ausbildung, gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten.“
Quelle: Deutsche Rentenversicherung
„Jeder Vierte wird in seinem Leben mindestens einmal berufsunfähig“, heißt es in einer Untersuchung der Deutschen Aktuarvereinigung e.V. im Jahr 2018. Die Zahlen der Deutschen Rentenversicherung im Jahr 2020 ergaben in Deutschland insgesamt 175.800 genehmigte Anträge auf Erwerbsminderung. Die Rente wegen voller Erwerbsminderung soll das Einkommen ersetzen, wenn eine Person aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeitsfähig ist. Psychische Erkrankungen sind mit 41 Prozent der Hauptgrund für eine Erwerbsminderungsrente.
Julia Ulrich ist Leiterin der Jugendhilfe-Einrichtung des gemeinnützigen Vereins St. Thomas e.V. in Reilingen. Sie erkenne deutlich, dass es immer mehr junge Menschen mit psychischen Krankheiten gibt. Den Grund dafür sieht Ulrich vor allem im gesellschaftlichen Druck. Für die Leiterin ist es eindeutig, dass die Vermittlung von Werten wie Liebe zurückgeht „hin zur Funktionalität und dem Leistungsprinzip.“ Schon in jungen Jahren können die Bewohner*innen von St. Thomas e.V. die Schule nicht mehr besuchen oder brechen ihre Ausbildung ab. Für die Jugendlichen bedeute das nicht mehr Teil der Gesellschaft zu sein, erklärt Ulrich. Das löse bei vielen Betroffenen ein Minderwertigkeitsgefühl aus, weil sie den Eindruck haben die Ansprüche der Gesellschaft nicht mehr erfüllen zu können.
„Ich kann trotzdem noch was!“
Annika Hoffman hat sich mittlerweile daran gewöhnt nicht arbeiten zu können. „Es ist halt jetzt mein Leben“, sagt sie heute. Doch am Anfang habe sie sich schwer damit getan es anderen zu erzählen. Sie sei sich blöd vorgekommen, da man ihr weder die Krankheit noch die Rente ansehe. Deshalb habe sie auch gelogen. Manchmal lüge sie auch heute noch, gesteht die Rostockerin schmunzelnd. Vor allem wenn sie meine es gehe den Gegenüber nichts an. „Ich bin Bibliothekarin“, flunkert sie dann und hofft darauf, dass keine Nachfragen kommen. Doch die Herausforderung für sich eine Lebensdefinition zu finden bleibt. Lange Zeit habe Annika sich gefragt: „Wer bin ich und was kann ich der Menschheit geben?“ Julia Ulrich weiß, dass Berufsunfähige sich oft über ihre Krankheit definieren. Deshalb helfe sie den Jugendlichen zu lernen sich über ihre Interessen, Hobbys und Werte zu bestimmen anstatt über ihre Arbeit. „Es ist das Ziel unserer Hilfe, dass Betroffene eine andere Definition von sich selbst finden und zulassen können.“, sagt die Leiterin. Annika habe durch die Musik eine neue Definition von sich gefunden. Sie sei zum Gesangsunterricht gegangen und habe den Bundeswettbewerb erreicht. Das habe sie stolz gemacht. Damit habe Annika sich und ihrem Umfeld bewiesen: „Ich kann trotzdem noch was!“
Selbstakzeptanz und Struktur
Doch die Selbstakzeptanz kam erst mit der Akzeptanz ihrer Eltern. Drei Jahre lang hofften ihre Eltern, dass es Annika wieder besser geht. Deshalb habe Annika auf ihren Vorschlag hin versucht ein Musikstudium zu beginnen. Doch sie sei an den Vorbereitungen für die Aufnahmeprüfungen gescheitert. Nach diesem Fehlversuch hätten ihre Eltern gemerkt, dass die Rente für ihre Tochter sinnvoll ist. Annika schließt nicht aus irgendwann wieder einen Minijob oder ein Ehrenamt zu übernehmen. Doch etwas mit so viel Verantwortung wie ein Studium komme nicht mehr in Frage. Annika offenbart: „Durch die Fehlversuche habe ich den Glauben daran verloren, dass ich so etwas Großes nochmal schaffe.“ Die größte Herausforderung in Annikas Alltag sei es eine Struktur zu finden und beizubehalten. „Struktur ist ein wichtiger Punkt, an dem ich immer noch arbeite und wahrscheinlich auch mein Leben lang arbeiten werde.“ Sie empfinde es als verletzend, wenn Menschen denken sie würde den ganzen Tag nur auf der faulen Haut liegen. Gesunde Menschen haben die Arbeit als Grund, weshalb sie jeden Morgen aufstehen, erklärt sie. Annika muss sich selbst Ziele setzen wie zum Beispiel jeden Morgen um neun Uhr aufzustehen. Ihr Tagessablauf sei geprägt von Arztbesuchen und der Physiotherapie. Zusätzlich bringe ihr Hund Struktur in ihr Leben, da sie mit ihm täglich drei Mal spazieren gehe. Außerdem treffe sie sich regelmäßig mit Freunden und verdeutlicht deshalb: „Irgendwie gehen die Tage genauso schnell vorbei wie bei jedem anderen.“
„Gerade wenn ich am Boden liege, muss ich besonders stark kämpfen damit ich das bekomme, was ich brauche.“
Rente nur über "Bürokratiekrieg"?
Seit 2015 bekommt Annika die volle Erwerbsminderungsrente. Ihr Antrag wurde schnell genehmigt, doch sie kenne viele Betroffene, die einen „Bürokratiekrieg“ führen mussten. Auch sie hätte sich am Anfang mehr Übersicht gewünscht. „Ich war einfach so verloren in den ganzen Anträgen“, erinnert sie sich. Außerdem hatte sie das Gefühl für alles kämpfen zu müssen wie beispielsweise für ihren Reha-Aufenthalt und für bestimmte Medikamente. „Gerade wenn ich am Boden liege, muss ich besonders stark kämpfen damit ich das bekomme, was ich brauche.“, kritisiert sie das Gesundheitssystem. Julia Ulrich berichtet ebenfalls, dass es für junge Menschen „fast unmöglich“ sei ohne Unterstützung von rechtlichen Betreuern eine Erwerbsunfähigkeitsbescheinigung zu bekommen.
Das Hauptproblem sieht die Leiterin darin, dass psychische Erkrankungen immer noch mit einem Stigma versehen seien. Deshalb würden sich die Jugendlichen nicht trauen über ihre Schwierigkeiten zu sprechen und bekommen somit auch keine Unterstützung. Dagegen könne Aufklärung über psychische Erkrankungen in der Schule helfen, um dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu geben, erklärt sie. Allgemein empfiehlt sie jungen Menschen, die sich vor Berufsunfähigkeit schützen wollen, im Austausch mit anderen zu stehen. Besonders, wenn man sich selbst nicht mehr weiterhelfen könne. Beim Blick in die Vergangenheit erinnert sich Annika, dass ein Stressmoment der vermutliche Auslöser ihrer Krankheit gewesen sei. Deshalb ist ihr Tipp für junge Menschen: Das eigene Leben so glücklich und so stressfrei wie möglich zu gestalten.