„Wir Menschen sind zwar soziale Wesen, dennoch sollten wir uns hin und wieder vom Freizeit-ADHS erholen und für uns selbst zur Ruhe kommen.“
Quarantäne als Selbstverlust oder -findung?
„In 15 Minuten beginnt das erste Zoom-Meeting“, stellt Sven Hermeling, Einkäufer in einem deutschen Lebensmittelunternehmen, fest. Der 28-Jährige steht vor seinem Spiegel und knöpft sich sein hellblaues Hemd zu. Frischer Duft von Kaffeebohnen fegt durch die Wohnung und die ersten Sonnenstrahlen erhellen den Raum. „Ein ungewöhnlicher Werktag unter der Woche, der sich anfühlt wie an einem Feiertag“, sagt Hermeling und richtet sich die Krawatte. Untenrum trägt er seine Lieblingsshorts, die üblicherweise an gemütlichen Sonntagvormittagen zum Einsatz kommen. Er findet es fraglich, ob sich Arbeit und Privatleben unter einem Dach verbinden lassen. Der Einkäufer gießt sich den aufgebrühten Kaffee ein, klappt seinen Laptop auf und beginnt seinen ersten Tag im Homeoffice.
Vor der Quarantäne arbeitete er oftmals bis zu 60 Stunden in der Woche - manchmal mehr. Obwohl Hermeling Spaß an seiner Arbeit hat, fehlte ihm bisher die Zeit für sich selbst. Anfangs hat er befürchtet, dass die Umstellung durch Corona längere Kommunikationswege mit sich bringt, den Workload zusätzlich erhöht und Abstimmungen erschwert. Er nutzt die freie Zeit, um seine „Bücherliste“ abzuarbeiten oder um neue Rezepte auszuprobieren. Die Arbeit selbst, so berichtet er weiter, sei zwar nicht weniger geworden, doch die freie Zeiteinteilung wirkt sich positiv auf das eigene Wohlbefinden aus. Nach zwölf Wochen Homeoffice berichtet Hermeling: „Ich bin selbstständiger und unabhängiger in meinem Arbeitsrhythmus. Mal eben ein Spaziergang am Nachmittag einlegen oder mit der Familie zu Mittag essen - das wäre vorher undenkbar gewesen.“
Flugbegleiter André Dombrowski hingegen war anfangs glücklich über die Ausgangssperre. Er sah sie als Möglichkeit an, nach Langem wieder mehr Zeit für sich zu haben und den Boden unter den Füßen zu spüren. Anders als bei Hermeling kann der Flugbegleiter kein Homeoffice machen und wünscht sich mittlerweile die Normalität wieder zurück. Die Zeit zu Hause hat ihm aber ermöglicht, sich wieder seinem Hobby zu widmen: „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal gezeichnet habe! Es tut einfach so gut, nur für sich selbst zu sein!“
Chance zur Selbsterkenntnis
Psychotherapeutin Simone Pferrer ist sich sicher, dass aus der Krise heraus auch positive Entwicklungen stattfinden können. Dies liegt vor allem daran, dass die Zeit dafür da ist, sich tiefgründigere Gedanken über sich selbst und die bisherigen Entscheidungen zu machen. Sie unterscheidet hierbei zwischen intro- und extrovertierten Personen:
Auch dem extrovertierten Dombrowski ist die Kontaktpflege enorm wichtig. „Extrovertierte Personen ernähren sich von der Bestätigung, die sie nun aufgrund der Ausgangssperre nicht mehr in der gewohnten Form bekommen können. Das ist ein natürlicher Prozess im Kopf, welcher den Menschen dazu animiert, sich ein neues Ventil zur eigenen Selbstbestätigung zu suchen“, so Pferrer weiter.
Professor Andres Steffanowski erforscht die Sinnsuche und das Wohlbefinden in Zeiten von Corona mit überraschenden Ergebnissen. An seiner Fakultät für angewandte Psychologie an der SRH Hochschule Heidelberg hat er eine Studie durchgeführt, bei der er das Verhalten der Menschen in der Quarantänezeit erforscht hat. In der Studie berichten viele Probanden von positiven Erfahrungen durch die Ausgangseinschränkung. Knapp 69 Prozent gaben an, dass sie die einfachen Dinge viel mehr genießen, beispielsweise einen Spaziergang durch die Natur. Einige entdeckten neue Skills, Interessen und eine neue Art der Selbstliebe. Oft wurden alte Gewohnheiten und bisherige Entscheidungen hinterfragt und überdacht. 60 Prozent fühlen sich freier in ihrer Haut, da der „soziale Druck“ entfällt, sich an die Gesellschaft anpassen zu müssen. Dadurch werden Entscheidungen ohne eine Beeinflussung von außen getätigt. Introvertierte Menschen brauchen keine Ausreden mehr zu finden, warum sie das Haus nicht verlassen möchten. Extrovertierte hingegen haben die Möglichkeit, sich zu erholen:
So beschreibt der Professor das Phänomen, wenn die Menschen sich verpflichtet fühlen, möglichst viel Zeit in der Gesellschaft zu verbringen. Daher überraschen ihn die Ergebnisse aus der Studie keinesfalls. Menschen sind zwar soziale Wesen, aber gleichzeitig auch Gewohnheitstiere, die sich schnell an die gegebenen Situationen anpassen und versuchen, das Beste daraus zu machen.
Kein Homeoffice für Pfleger
Professor Steffanowski verweist trotz des positiven Ergebnisses auf diejenigen, die nicht das Privileg haben, von zu Hause aus zu arbeiten: „Wir dürfen nicht die Menschen in der Produktion, Metzger oder Pfleger vergessen, die das nicht können“, erklärt der Psychologie-Professor. Diese Situation betrifft auch Altenpflegerin Gabriele Wanke, die seit 1986 in der Pflege tätig ist und keine Option auf Heimarbeit hat. Sie möchte das aber auch nicht: „Ich bin sehr froh, geregelt arbeiten gehen zu dürfen. Für mich wäre es schwer vorstellbar, den ganzen Tag zu Hause zu bleiben, wenn da draußen Hilfe von uns Pflegern benötigt wird.“
Die Mehrarbeit durch die Corona-Pandemie stört sie wenig. Nur die strengen Hygienemaßnahmen erschweren den Arbeitsalltag enorm. Doch Pflegebedürftige brauchen besonders jetzt die Betreuung. Wanke drückt auf den Knopf der Kaffeemaschine in der kleinen Dienstküche. Ihre Schicht beginnt in 15 Minuten.
Es zeigt sich somit, dass sich die Beschränkungen unterschiedlich auf das eigene Befinden auswirken können: Während die einen in dieser Zeit an ihre Belastungsgrenze kommen, gelingt es anderen, die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen. Insgesamt birgt die Krise sowohl Sonnen- als auch Schattenseiten für die Menschen.