Menschen aus dominanten Kulturen nutzen kulturelle Elemente, um Geld zu machen oder sich selbst zu profilieren.
Austausch oder Aneignung?
Im Regen biegt Özlem, auch Oz genannt, mit ihrem Fahrrad in einen Hinterhof im Stuttgarter Westen. Hier verbirgt sich ihr Yogastudio Om Yoga. Als sie die Türen öffnet, wird man von einem zarten Geruch ätherischer Öle begrüßt. Danach heißt es: Schuhe ausziehen, bevor es anschließend durch den hellen Eingangsbereich in die Chill-Area der Lehrer*innen geht. Während Oz den Wasserkocher für den Salbeitee aufsetzt, beginnt sie über ihre Yoga-Geschichte zu erzählen und wie sie zum Thema kulturelle Aneignung in ihrem Beruf steht.
Das Thema kulturelle Aneignung wird seit einiger Zeit viel diskutiert. Sportarten blieben von dieser Debatte weitestgehend verschont – zumindest bis jetzt, denn die westliche Yoga-Szene ist auf den ersten Blick ein Paradebeispiel für „cultural appropriation”. In vielen Yoga-Studios werden nicht nur Asanas, Pranayama und Meditation geübt – sondern es sind auch Statuen hinduistischer Gottheiten, OM-Tattoos, buddhistische Gebetsketten und vieles anderes zu finden, das seinen Ursprung nicht in westlichen Ländern hat.
Was versteht man unter kultureller Aneignung?
Kultur(en)forscherin Nina Reuther versteht unter kultureller Aneignung, dass Menschen aus dominanten Gesellschaftsgruppen Elemente aus an den Rand gedrängten Kulturen entnehmen und sich daran bereichern: „Im Prinzip geht es darum, dass Leute sich an Elementen anderer Kulturen bedienen, die man durch die Kolonialisierung einschränkte und als minderwertig bezeichnete. Menschen aus dominanten Kulturen nutzen kulturelle Elemente, um Geld zu machen oder sich selbst zu profilieren.” Man nimmt sich etwas, das einem nicht gehört, und zieht einen Nutzen daraus. Dabei kann es sich um geistiges Eigentum, traditionelles Wissen oder kulturelle Artefakte handeln.
Zurück zum Ursprung
Die ersten Ursprünge des Yogas lassen sich bereits in den Jahren zwischen 1500 - 500 vor Christus in philosophischen Texten, den Upanishaden, des Hinduismus finden. Die zunächst rein meditativen Praktiken weiteten sich in ganz Indien aus, bevor sich nach und nach auch der physische Teil entwickelte.
Einer Studie der Gesellschaft für Konsumforschung zufolge praktizieren rund drei Millionen Deutsche regelmäßig Yoga. Die Analysten des Marktforschungsunternehmens Technavio prognostizierten für den Zeitraum von 2019 bis 2023 ein Wachstum des weltweiten Markts für Yoga-Bekleidung mit einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von über 6 Prozent. Im Zuge dessen kommt vermehrt der Gedanke der kulturellen Aneignung auf und ob sich der Westen einer anderen Kultur beraubt.
Kulturelle Anerkennung
Beschäftigt man sich umfassend mit einer Kultur, an der man Interesse hat, und begegnet man dieser mit Wertschätzung, kann man von kultureller Anerkennung sprechen. Um Klischees zu vermeiden, sollte man sich also respektvoll mit der Kultur auseinandersetzen. „Man kann andere Kulturen wertschätzen, aber sollte nicht versuchen, sie zu stehlen“, so Oz.
Auch interessant
Das Geschäft mit Yoga
Es gibt einen ganzen Yoga-Markt für Kleidung, Matten und anderes Zubehör. Ursprünglich existierten spezielle Matten oder Kleidung für Yoga nicht, denn es geht um Entspannung und Erleuchtung und es ist kein Fitnessprogramm. Yoga ist ein innerer Zustand, der sich durch regelmäßige Praxis diverser Techniken einstellt. In der westlichen Welt liegt der Fokus fast ausschließlich auf Asana, der körperlichen Praxis. Dabei ist Asana nur ein kleiner Aspekt der Tradition, die sich nicht als Workout, sondern als ganzheitlicher Lebensweg versteht.
Man kann andere Kulturen wertschätzen, aber sollte nicht versuchen, sie zu stehlen.
Hinduistische Statuen oder Gebetsketten sucht man in dem Studio von Oz vergeblich. Oz betritt den Kursraum ihres Studios, den Hotroom. Wieso der Raum so heißt, wird einem sofort klar. Bei einer Temperatur von 35 bis 38 Grad sollen die Muskeln flexibler werden und den Geist auf den Augenblick fokussieren und so beim Entspannen und Abbauen von Stress helfen.
Yoga und Rassismus
Hinzu kommt, dass diese Yoga-Industrie meist ein konkretes Bild des oder der Praktizierenden präsentiert: Eine schlanke, weiße Frau. Die Yogaszene gilt als White Space, an den Kursen nehmen hauptsächlich weiße Teilnehmer*innen teil. Randgruppen finden nur schwer Zugang. Kurse sind meist nur für wohlhabende Menschen zugänglich, da diese kostspielig sind.
Özlem kritisiert die Homogenität und die fehlende Diversität im Yoga. Als sie von den USA zurück nach Deutschland zog, praktizierte sie in verschiedenen Yogastudios, sah sich aber nie in einem von ihnen unterrichten. Deshalb eröffnete sie ihr eigenes Studio mit einer diversen Community. Die Teilnehmer*innen kommen aus verschiedenen Ländern, weshalb Oz hauptsächlich auf englisch unterrichtet.
Dürfen Weiße Yoga ausüben?
Die Debatte um kulturelle Aneignung zu verstehen und zu verarbeiten, ist nicht angenehm. Man fragt sich, ob das Resultat daraus wäre, dass weiße, westliche Menschen kein Yoga mehr praktizieren oder unterrichten sollten. „Es ist wichtig, Betroffene ins Boot zu holen. Man sollte von dem universellen Gedanken absehen, dass man nach dem Gespräch mit einer betroffenen Person die Antwort für alles hat. Jede Situation und jeder Moment ist einmalig und braucht eine eigene Lösung“, erklärt Kultur(en)forscherin Nina Reuther. Es gehe in der Debatte um kulturelle Aneignung nicht um weiße, westliche Menschen und deren Befindlichkeiten.
Bevor Oz ihr Studio verlässt, lädt sie Redakteurin Sabrina zu einer Meditation ein, denn für Oz ist Yoga mehr als nur körperliche Betätigung. Yoga verbindet Körper und Geist miteinander. Auch wenn die Aneignung kultureller Errungenschaften meist unbewusst geschieht, werden dabei Grenzen überschritten. Am Ende muss jeder selbst entscheiden, wie er oder sie zu Tradition und Praxis steht. „Es gibt keinen perfekten Weg, jeder hat seinen eigenen”, findet Oz.