„Diese Wut wird zu Gewalt, mittels derer wir uns dann hauptsächlich ausdrücken.“
(K)ein echter Mann?
Wir betreten das Zimmer der Parallelklasse. Ist der Zeitpunkt gekommen, an dem mein behutsam gehütetes Geheimnis auffliegt? Der Steckbrief einer Freundin am Ende des Zimmers zeigt eine Tanzgruppe. In der Mitte des Fotos: Ich. Unauffällig versuche ich den Zettel zu verdecken, während meine neugierigen Mitschüler*innen die anderen Steckbriefe begutachten. Doch die Versteckaktion scheitert und ich versuche der Situation mit einer wirren Ausrede zu entkommen.
Hätte ich mich als Mädchen für das Foto geschämt? Wahrscheinlich nicht. Irgendwann hörte ich auf zu tanzen, da ich durch dieses Hobby nicht als weniger männlich gelten wollte. Toxische Stereotype hielten mich davon ab, zu mir selbst zu stehen.
Männlichkeit im Wandel
Sobald das Idealbild eines Mannes Abweichungen ausgrenzt, wird Männlichkeit toxisch. Doch die Repräsentation von Männlichkeit befindet sich im Wandel. Harry Styles etwa posiert in einem Kleid auf dem Cover der US-Vogue und Chanel bringt eine Make-up-Linie für Männer auf den Markt. Das ist ein guter Anfang: Männlichkeit ist vielseitig und sollte als bunte Palette repräsentiert werden.
Toxische Männlichkeit lässt sich allein durch diese Entwicklung aber nicht beseitigen, wie die 2019 veröffentlichte Studie eines Forschungsteams der Genfer Universität zeigt. So kann eine wahrgenommene „Feminisierung“ der Männlichkeit negative Sichtweisen heterosexueller Männer auf Homosexualität verstärken. Es ist ein Teufelskreis: Was auf der einen Seite ein positives Umdenken anregt, könnte auf einer anderen Seite noch mehr Öl ins Feuer gießen.
Mann genug?
Die emotionale Seite eines Mannes zählt zu den vermeintlich weiblichen Attributen, die im Idealfall unterdrückt werden sollen. Männlichkeit wird mit körperlicher, aber auch psychischer Stärke verbunden – ein „Softie“ passt da nicht ins Bild. „Are you man enough to soften up? Are you tough enough to open up?“, singt Dorian Electra herausfordernd im Song „Man to Man“. Die Liedzeile bringt einen wesentlichen Widerspruch auf den Punkt: Dem idealen Mann fehlt offenbar die Stärke, sich verletzlich vor anderen zu zeigen.
Sollte dieses Rollenbild Männer davon abhalten, sich bei psychischen Problemen helfen zu lassen, wäre toxische Männlichkeit gar selbstzerstörerisch. Tatsächlich unterscheidet sich der Umgang mit psychischen Belastungen zwischen Jungs und Mädchen, wie mir Dr. Markus Löble, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Christophsbad, erklärt. Über die Gründe hierfür werde aber noch diskutiert.
Bloß keine Memme sein
Egal ob überfordert, berührt oder traurig – ich darf weinen. Statt Emotionen in toxische Verhaltensmuster zu pressen, steige ich lieber im Testosteron-Olymp ein paar Stufen ab. Sicherlich wagen viele Männer diesen Schritt jedoch nicht. Jungs sollten von klein auf lernen, ihre sensible Seite zu akzeptieren und zuzulassen. Das ist vor allem eine Aufgabe der Erziehung und Bildung. Lasst uns Gefühle bei Jungs und Männern endlich normalisieren!
Ich kann mich kaum an tiefgründige Gespräche mit Jungs über Gefühle erinnern, bemühte mich aber auch nie darum. Meine engen Bezugspersonen sind weiblich und das ist vollkommen okay. Bei ihnen kann ich offen mit meinen Emotionen umgehen.
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Müssen gewisse Emotionen unterdrückt werden, können sie auf andere, besonders hässliche Weise aus Männern herausplatzen. Wut gelte als Standardgefühl für Männer, da Wut nicht als Emotion angesehen werde, beschreibt JJ Bola in seinem Buch „Sei kein Mann“. „Diese Wut wird zu Gewalt, mittels derer wir uns dann hauptsächlich ausdrücken.“
Wenig überraschend, dass sich die Gewaltbereitschaft von Jungs und Mädchen schon im Schulalter unterscheidet: Von allen Gewalttaten in schleswig-holsteinischen Schulen waren Jungs in 84 Prozent der Fälle Täter. Ein „Rabauke“ wird eben eher akzeptiert als eine „Memme“ – es ist zum Heulen.
Break free!
Spätestens als die Pubertät einsetzte, habe ich versucht, einen Teil meiner „unmännlichen“ Persönlichkeit herunterzuschrauben. Und selbst heute stelle ich fest, dass ich manche Stereotype noch immer nicht getrost ignorieren kann: Als ich mir für ein Foto die Nägel lackierte, versuchte ich sie intuitiv in der Öffentlichkeit zu verbergen. Doch erst wenn ich Stereotype ohne Scham breche, kann ich ihnen entgegenwirken.
Es sollte in Zukunft nicht nur kollektive Akzeptanz entstehen, sondern auch Mut der Individuen. Positive Entwicklungen in der Popkultur sollen Jungs und Männer in ihrem Alltag inspirieren. Dort dürfen sie aber nicht als Einzelfälle wahrgenommen werden, die von toxischer Männlichkeit sofort im Keim erstickt werden.
Individualität ist immer erstrebenswerter als Konformität: Das Scheinwerferlicht wird am Ende auf den fröhlichen, tanzenden Jungen gerichtet sein. Dennoch geht es nicht darum, Männlichkeit komplett neu zu definieren. Jungs sollen weiterhin Fußball spielen, Superhelden-Filme anschauen und die Farbe Blau tragen dürfen. Männer sollen weiterhin muskulös sein, Bier trinken und Anzüge tragen dürfen. Alle, die diesem Muster nicht entsprechen, sind aber nicht weniger Mann. Was ist also noch männlich und was nicht? Genau diese Frage sollte gar nicht erst gestellt werden.