„Je seltener man sich sieht, desto wertvoller sind die kleinen Alltagsmomente, die man zusammen erleben kann."
Je ferner, desto enger?
Es hat den ganzen Tag geschneit. Ich versinke auf dem Heimweg fast bis zu den Knien im Schnee. Von Weitem sehe ich schon das beleuchtete Gebäude, mein aktuelles Zuhause, den „5plex“. Das Holz der Terrasse quietscht, als ich in Richtung Haus laufe. Ich öffne die leicht angefrorene Tür. Eine dicke Ladung Dampf kommt mir entgegen. Draußen hat es minus 17 Grad. Drinnen ist es mollig warm. Ali steht direkt vor mir in der Küche und bereitet das Abendessen vor. „Hello darling, how was work?“ Wir essen zusammen zu Abend, quatschen über unseren Arbeitstag und schauen eine obligatorische Folge Vampire Diaries. Danach kümmere ich mich um den Abwasch, während sie die Wohnung aufräumt. Auch dabei reden wir nonstop über Gott und die Welt oder singen zusammen zu unseren Lieblingsliedern. Ali und ich wohnen zusammen, wir arbeiten gemeinsam in der Kantine eines Ski Resorts im Westen Kanadas und verbringen auch unsere Freizeit miteinander. Fünf Monate lang sind Ali und ich die besten Freundinnen. Unzertrennlich. Mittlerweile liegen knapp 14 000 Kilometer zwischen uns.
Was definiert eine Freundschaft überhaupt?
Freund*innen sind wie Familie, nur irgendwie besser. Im Gegensatz zu deinen Verwandten, kannst du dir deine Freund*innen selbst aussuchen. Beziehungen kommen und gehen, eine gute Freundin hast du aber im besten Fall ein Leben lang. Laut dem Duden ist eine Freundschaft ein auf gegenseitiger Zuneigung beruhendes Verhältnis von Menschen zueinander. Aber reicht bloße Zuneigung wirklich für eine Freundschaft aus, die mehrere Jahre lang, vielleicht sogar für immer tausende Kilometer überwinden muss? Ich glaube nicht. Sich zu mögen und sympathisch zu finden ist die Basis einer Freundschaft, aber für eine intensive Verbundenheit braucht es deutlich mehr. Vertrauen, Humor, Verlässlichkeit, gegenseitige Unterstützung und gemeinsame Erinnerungen – das schweißt zusammen. Laut dem amerikanische Beziehungsforscher Jeffrey Hall sind über 200 Stunden gemeinsame Zeit notwendig, um eine echte Freundschaft zu entwickeln. Zeit ist damit also auch ein entscheidender Faktor, der eine Bekanntschaft von einer Freundschaft unterscheidet.
Je älter man wird, desto schwieriger wird es, gute Freund*innen zu finden. In der Schule ist man oft noch Teil einer Clique, versteht sich mit den meisten Mitschüler*innen gut. Es scheint, als hätte man viele Freund*innen. Nach dem Abi, wenn sich die Wege trennen, ins Ausland oder in eine andere Stadt zum Studieren, merkt man sehr schnell, mit wem man eine wahre Freundschaft hat und mit wem man nur wegen der gemeinsamen Sache, der Schule, befreundet war. Es fehlen Gemeinsamkeiten außerhalb des Biologie- und Matheunterrichts. Eine Fernfreundschaft stellt die bisherige Beziehung erstmal auf die Probe. Wenn die Verbundenheit auf die Ferne funktioniert, ist klar: Das ist eine wahre Herzensfreundschaft.
So ist es bei Ali und mir. Trotz der weiten Distanz zwischen Australien und Deutschland sind Ali und ich immer noch gut befreundet. Wir telefonieren sehr selten, vielleicht alle paar Monate mal. Und wir nehmen auch nicht ständig am Leben der anderen aktiv teil. Trotzdem weiß ich, dass sie da ist, wenn ich sie brauche. Jedes Mal, wenn wir miteinander sprechen, fühlt es sich an, als wäre keine Zeit da zwischen vergangen. Obwohl sie noch nie in meiner Heimat war, noch nie mein Zuhause oder meine Familie gesehen hat, weiß sie mehr über mich als Freund*innen, die mit mir jahrelang zur Schule gegangen sind. Ist unsere Freundschaft vielleicht genau deswegen so eng? Je ferner, desto enger?
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Keine Frage der Nähe
Der Therapeut und Autor des Ratgebers „Gelingende Fernbeziehung“ Peter Wendel, erklärt in einem Interview: „Wer eine prägende Zeit miteinander verbracht hat, braucht die örtliche Nähe auf Dauer nicht zwingend.“ Durch eine Fernfreundschaft lernt man die andere Person wirklich zu schätzen. Ali und ich nehmen den Moment, den wir zusammen verbringen, bewusster wahr, weil wir uns gezielt füreinander Zeit nehmen müssen. Ein spontaner Austausch im Alltag funktioniert aufgrund der Zeitverschiebung nicht. Belanglose Gespräche zwischen Tür und Angel gibt es nicht. Wenn wir telefonieren, denke ich viel genauer darüber nach, was ich ihr erzählen möchte. Dadurch sind unsere Unterhaltungen intensiver und persönlicher als mit Freund*innen, die ich jeden Tag sehe. Trotzdem bekomme ich wegen der Entfernung natürlich nur einen Bruchteil ihres Lebens mit, im Gegensatz zu ihren Freund*innen vor Ort.
In der Schule, bei der Arbeit oder im Sportverein ist man teilweise mit jemandem befreundet, weil das einfach praktisch ist. Man hat jemanden zum Reden, mit dem man die Mittagspause verbringen kann und nicht alleine ist. Bei Fernfreund*innen kann man sich sicher sein, dass diese niemals nur aus Praktikabilitätsgründen entstanden sind. Eine Freundschaft mit Menschen aus einem anderen Land aufrecht zu erhalten, ist immer mit viel Aufwand verbunden. Wenn die Freundschaft über längere Zeit hält, bedeutet das: Die Beziehung basiert auf echter Zuneigung und Vertrauen.
Außerdem mag ich die Einfachheit einer Fernfreundschaft. Man ist zu nichts gezwungen. Wohnt man in derselben Stadt, fühlt man sich oft unterschwellig verpflichtet, etwas gemeinsam am Wochenende zu unternehmen. Mit Ali ist das nicht so. Wir beide haben unseren eigenen Alltag und können unabhängig voneinander bestimmen, wann und wie oft wir uns sehen. Deswegen sind Fernfreund*innen die entspannteren Freund*innen. Ich muss mir nicht überlegen, wie ich mich nach einem Streit wieder entschuldige. Als Fernfreund*innen haben wir keine Zeit für unnötige Streitereien. Ich muss mir auch nichts aufwendiges für ihren Geburtstag überlegen, eine nett geschriebene Nachricht reicht oft aus. Egal wie selten wir miteinander schreiben oder telefonieren, jede Art von Kommunikation ist besser, als gar nichts von der anderen Person zu hören. Man kann nichts falsch machen. Wenn wir uns gegenseitig besuchen, ist es egal, was wir unternehmen. Wenn man sich so selten sieht, reicht oft die Zeit zu zweit für eine unvergessliche Erinnerung aus. Für keine andere Person würde ich morgens früh an meinem freien Tag aufstehen und mich ins Auto setzen, nur um irgendwo in der Gegend rumzufahren. Mit Ali habe ich das in Kanada aber oft gemacht. Sie hat mich an unserem freien Tag geweckt, um in der Stadt einkaufen zu gehen oder etwas abzuholen. Wir saßen zusammen im Auto, haben Musik gehört und die Zeit zu zweit genossen. Wahrscheinlich genau weil wir wussten, dass unsere gemeinsame Zeit begrenzt ist. Je seltener man sich sieht, desto wertvoller sind die kleinen Alltagsmomente, die man zusammen erleben kann.
Im Herzen immer dabei
Die Corona-Pandemie hat bewiesen, durch das Internet ist einiges möglich. Egal ob per Zoom, Skype oder WhatsApp, mittlerweile gibt es so viele Möglichkeiten, sich digital zu treffen. Teilweise fühlt es sich fast so an, als säße man im selben Raum. Im Herzen ist Ali immer dabei. Nichtsdestotrotz sind Fernfreundschaften mit viel Mühe verbunden. Die ständige Absprache, wann man sich im Alltag füreinander Zeit nehmen kann. Der fade Beigeschmack, wenn Ali mir gerade von ihrer grandiosen Party mit unseren gemeinsamen Freund*innen in Australien erzählt, während ich in Deutschland sitze und für Abgaben schuften muss. Der traurige Abschied voneinander, jedes Mal, wenn wir stundenlang telefonieren und es irgendwann einfach zu spät wird. Das unterbewusste Vermissen vergangener Zeiten. Manchmal sogar ein kurzes Aufblitzen von Eifersucht, wenn meine anderen Freund*innen aus Australien früher etwas von Ali erfahren als ich. Trotzdem – all diese Dinge sind es wert, in diese Freundschaft zu investieren. Was gibt es Schöneres als die Freude darauf, sich endlich wieder nach drei Jahren Pandemie in die Arme zu fallen und gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen?
Merkmal einer guten Freundschaft
Ali und ich sitzen auf der Rückbank des roten Vans unseres Mitbewohners. Wir sind auf dem Weg zum Flughafen. Uns war klar, dass sich unsere Wege irgendwann trennen müssen. Doch so schnell und plötzlich - dass hätte niemand erwartet. Es ist Ende März 2020, die Corona-Pandemie hat gerade Kanada erreicht und unsere gemeinsamen Reisepläne auf Glatteis gelegt. Ali fliegt heute Abend noch nach Perth zurück und auch ich muss nächste Woche wieder nach Hause, bevor die Grenzen komplett schließen. Es ist ein Good-Bye auf unbestimmte Zeit.
Ja, wahrscheinlich sind Fernfreundschaften in bestimmten Lebenssituationen die besseren Freundschaften. Sie zeigen uns: Diese Beziehung ist so stark, dass es egal ist, ob die andere Person neben dir sitzt oder eben am anderen Ende der Welt gerade schläft. Aufgrund der großen Distanz und der begrenzten Zeit sind Fehler schneller verziehen und man ist einfach nur froh, die andere Person zu sehen. Trotzdem möchte ich meine Freund*innen aus Deutschland nicht missen. Schließlich sind sie diejenigen, die mich in den Arm nehmen, wenn ich heulend vor meinen Uni-Abgaben sitze und mir alles zu viel wird. Oder die mit mir spontan nach einem langen Tag zusammen kochen und zu Abend essen.
Egal ob Fernfreundschaft oder nicht, im Leben wird es immer wieder Freund*innen geben, die dich nur einen Lebensabschnitt begleiten und andere Herzensfreund*innen, mit denen du dein Leben lang durch dick und dünn gehst. Gerade heutzutage bekommt man durch Social Media den Eindruck, eine ganze Menge an guten Freund*innen zu haben. Wir sollten uns öfter hinterfragen, wie intensiv solche Beziehungen wirklich sind. Stehen diese Freund*innen auch in wirklich schwierigen Zeiten zu dir? Wer eine wahre Freundschaft gefunden hat, sollte alles dafür tun, diese Verbindung intensiv zu pflegen und nie mehr herzugeben.