Einen Blick riskieren?
Ich finde es bemerkenswert, wie schnell sich eine eigene Beobachtung im Kopf festsetzen kann und einen so schnell nicht mehr loslässt. Es begann mit der Fahrt zur Hochschule, die so viele wie ich mit der S-Bahn antreten. Aus der Bahn ausgestiegen, laufe ich Treppen und Rolltreppen hinauf, bis mir auf dem alltäglichen Fußweg ein Gedanke kommt. Wir schauen uns im Alltag nur noch sehr selten an, geschweige denn in die Augen. Kann jede*r ja mal selbst beim nächsten Spaziergang ausprobieren.
Wenn man mal aktiv den Kopf oben behält und Blickkontakt sucht, ist erstaunlich, wie wenig man findet. Noch faszinierender ist sogar zu sehen, was Menschen alles anstellen, um ja keinen Blickkontakt entstehen zu lassen. Wenn ich behaupte, dass die meisten von uns auf solchen Wegen auf ihr Smartphone schauen, erzähle ich keinem etwas Neues. Kopf gesenkt – Blick nach unten. Schade eigentlich. Wenn man in seltenen Fällen dann doch noch einer Person begegnet, die den Kopf im ersten Moment oben hat, passieren erstaunliche Dinge. Da wird pfeilschnell das Handy aus der Hosentasche gezückt, verzweifelt nach den Kopfhörern gesucht oder einfach in einer solch ruckartigen Bewegung in die Ferne geschaut, um Blickkontakt auszuweichen. Dabei schließe ich mich gar nicht aus. Ich bin meistens gerne mit Menschen in Kontakt und habe trotzdem ab und an immer noch Probleme, sie anzusprechen, mit ihnen zu interagieren, keine unangenehmen Situationen entstehen zu lassen. Zur kleinstmöglichen sozialen Interaktion gehört der Blickkontakt eben dazu. Auch ich habe nicht immer die Energie und Lust, aktiv nach Blicken zu suchen, vor allem wenn die berühmt berüchtigten sozialen Akkus eh schon leer sind.
Blickkontakt - richtig und wichtig
Dennoch gehe ich meistens darin auf, wenn nach langer Suche ein Blick zurückkommt. Aber wofür überhaupt? Warum sollte man heutzutage den nahezu wagemutigen Schritt gehen, über seinen Schatten springen und den Kopf oben behalten? Mir würde da neben dem ästhetischen Faktor vor allem eins einfallen: weil ein Blick einem sehr viel geben kann. Eine kleine Spende sozusagen – an Wertschätzung, Anerkennung, Freude, Wärme, Liebe? An Werten und Gefühlen, nach denen sich wahrscheinlich mehr Menschen im Alltag sehnen, als sie zugeben möchten. In so einer winzigen Form der Aufmerksamkeit steckt fast mehr drin als in einer gemischten Tüte.
Bei all der Romantisierung liegt mir noch ein Punkt sehr am Herzen. Selbstverständlich sprechen wir hier nämlich von freundlich-interessierten Blicken – nicht von dem, was Wasen-Bezwinger und Gefühls-Rambos leider oft dem weiblichen Geschlecht entgegnen. Also kein Mustern, Gaffen oder Starren, und schon gar nicht erst sein Gegenüber zum Objekt machen.
Wenn wir also diese Grundregeln, auf die sich hoffentlich jeder zivilisierte Mensch einlassen kann, beachten, können wir eigentlich nur gewinnen. Denn wie habt ihr euch gefühlt, als ihr das letzte Mal einen herzlichen Blick empfangen habt? Wir alle haben täglich mit so vielen Herausforderungen zu kämpfen, mit so vielen kräftezehrenden Dingen zu tun. Und vergessen vielleicht genau deshalb, wie viel Wirkung so eine kleine Sache haben kann.
Mehr von der Kolumne "Es sind die kleinen Dinge" findest du hier.