Die Musik der Stadt
Sonntagnachmittag spitzeln die ersten Sonnenstrahlen durch das Rollo, weil’s eben da erst hochgezogen wurde. Um dem stickigen Gemisch aus Luft und Alkohol, das sich über Nacht in meinem Zimmer breitgemacht hat, entgegenzuwirken, reiße ich mein Fenster auf. Es drückt sich ein Schallschlag aus Sirenen, lautem Gelächter, hämmernder Baustellen und einem Hauch frischer Luft durch die Luke.
Ein Orchester aus Lärm schwirrt durch die Straßen Stuttgarts, Tag und Nacht. In der Dunkelheit spielt es Piano und um 13 Uhr gibt der Dirigent bis in die letzte Reihe ein starkes und überzeugtes Forte an. Jeden Tag wird ein neues Stück geprobt und präsentiert – jetzt wo ich darüber nachdenke, ist es wohl eher eine lässige Jazz-Jamsession – ohne jede Regel, nur nach Gefühl. Jede*r Einzelne ist beteiligt, ein großes Mosaik aus ganz vielen kleinen Teilen, das sich nur denen offenbart, die genau hinhören.
Die dörfliche Einöde
Seit ich aus meinem Dorf in die Stadt gezogen bin, kann ich davon nicht genug bekommen. Hatte man das Glück im urbanen Raum geboren worden zu sein, versteht man die leere, auffressende Ruhe, die im Dorf an der Tagesordnung steht, sicherlich nicht. Tritt man aus den Pforten seines Einfamilienhauses, begrüßt einen zwar im besten Fall das Zwitschern der Vögel und ein seichter, gülliger Windhauch, doch auf Dauer geht auch die Freude daran verloren. Ein biederer Fleck Erde, auf dem die Zeit schlichtweg stehengeblieben scheint. Dem Geschehen der Hochhauslandschaften zu lauschen, gibt Seelenfrieden und stellt für mich die wahre Stille dar.
Doch da spreche ich wohl nur für mich, dem Rest scheint der Lärm wohl auf den Keks zu gehen. Viele Menschen stören sich an einem lebendigen Außenbereich von Bars oder dem Verkehr der Stadt. In der Stuttgarter Zeitung habe ich gelesen, dass 2015 ganze 568 Beschwerden zu Lärmbelästigung beim Ordnungsamt eingingen. Klingt erstmal nicht viel, sind aber 1,5 Anrufe am Tag. Wieso zieht man in eine Stadt, wenn der eigene Schlaf von einem hinunterfallenden Blatt gestört wird? Seichtschläfer und Hörmuffel zerstören das Bild einer belebten, jungen Stadt.
Deutsche gegen Lärm
Besonders wir Deutschen haben ein Problem mit Geräuschen: Seit Beginn des 20. Jahrhunderts gilt Ruhe als vornehm und eine Aversion gegen Lärm ist völlig normal geworden. Mit dem Zuwachs der Städte und immer lauter werdenden Maschinen reagierte das Bürgertum mit Abneigung gegen rege Geräuschkulissen. 1907 entstand in Hannover die erste große Anti-Lärm-Bewegung der Deutschen. Ihr Ziel war das Bekämpfen alles Lautem, das dem kulturellen und intellektuellem Leben eine Bedrohung sein könnte. Ihre Beschwerdeliste reichte von Automobillärm, über Teppichklopfen, bis hin zu Musik bei offenem Fenster – eben ein richtig deutscher Verein. Es scheint, als sei Fußball der einzige Grund, ausnahmsweise aus seiner Haut zu fahren und herumzubrüllen.
Doch pauschal kann man das nicht auf ein Land anwenden, denn Lärm ist reine Empfindungssache. „Lärm“ tritt in vielen Formen auf: Aufregender Lärm wie hämmernde Presslufthammer löst mehr Unruhen aus, wohingegen ein entspannter Wellengang das Gemüt gut beruhigen kann. Doch wo für eine*n die Grenze zwischen Lärm und Musik liegt, darf jede*r selbst entscheiden, Heavy-Metal-Fans machen das prima vor. Die interessiert nicht, dass wohl fast keiner etwas mit ihrer Passion anfangen kann und dich sollte das dementsprechend auch nicht jucken.