„Wenn ich mal mitkick, dann geht mir das Herz auf. Aber eben in einer anderen Art und Weise, wie wenn ich an der Linie stehe.“
Der etwas andere Weg
06.04.2018: 33. Spieltag in der Regionalliga Südwest. Es ist Freitagabend, 18:55 Uhr. Die Sonne scheint mit letzter Kraft auf den Rasen im Stuttgarter Gazi-Stadion. Noch fünf Minuten bis zum Anpfiff des Spiels zwischen den Stuttgarter Kickers und dem SV Elversberg. Der Stadionsprecher verliest die Mannschaftsaufstellungen. Lautstark rufen Tausende Kickers-Fans die Nachnamen der Spieler. Als der Name des Cheftrainers vorgelesen wird, folgen nur vereinzelte Rufe von den Zuschauerrängen. Dreyer, Yannick Dreyer heißt der 24-Jährige, der an diesem Tag auf der Trainerbank sitzt. Der eigentliche Co-Trainer wurde kurzfristig zum Interimscoach beordert, nachdem der eigentliche Cheftrainer einen Tag vor dem Spiel seinen Rücktritt bekannt gegeben hatte. „Kickers! Kickers!“, schallt es durch das Stadion. Die Mannschaft betritt den Rasen. Dann kommt auch Yannick Dreyer aus den Katakomben. Groß gewachsen. Kurze, braune Haare. Athletische Figur. Er trägt ein weißes Shirt der Stuttgarter Kickers und eine lange schwarze Hose. Es folgt ein kurzes Abklatschen mit den Spielern auf der Ersatzbank. Dann ertönt der Pfiff des Schiedsrichters. Das Spiel geht los! Immer wieder steht Dreyer wild gestikulierend am Spielfeldrand. Er redet viel mit seinen Spielern und gibt ihnen taktische Anweisungen. Nach 30 Minuten reißt er die Arme in die Höhe. „Tooooooooor für die Stuttgarter“ ruft der Stadionsprecher, – „Kickers!“, erwidern die Fans. Ein Tor, das schlussendlich nicht für einen Sieg reichen sollte, weil die Gäste in der 45. Minute den Ausgleich erzielten. Die Kickers holen einen Punkt im Spiel gegen den SV Elversberg, der am Ende der Saison „hoffentlich noch Gold wert sein kann“, wie Dreyer auf der abschließenden Pressekonferenz sagt. Es sollte vorerst das erste und letzte Mal sein, dass Yannick Dreyer als Cheftrainer auf der Trainerbank Platz nahm. Nach diesem Spiel übernahm ein neuer Trainer die Mannschaft. Dreyer wurde in Folge dessen wieder zum Co-Trainer und musste sich eingestehen, dass der Punkt doch nicht Gold wert war. Die Stuttgarter Kickers stiegen in die Oberliga ab.
Auch am 13.07.2020, mehr als zwei Jahre später, steht Yannick Dreyer auf dem Platz der Stuttgarter Kickers. Die Saisonvorbereitung der ersten Mannschaft beginnt. Die Spieler formieren sich auf dem Spielfeld in einem großen Kreis. Dreyer positioniert sich in der Mitte des Kreises. Neben ihm stehen vier weitere Männer. Gemeinsam bilden sie das Trainerteam des Klubs aus Degerloch. Der mittlerweile 27-jährige Dreyer hat dabei weiterhin die Rolle des Co-Trainers inne. Cheftrainer Ramon Gehrmann bezeichnet die Zusammenarbeit mit ihm als „hervorragend“. Nach einer kurzen Begrüßung beginnt das Training. Dreyer leitet dabei eine Pass-Übung an. Mit lauter und energischer Stimme erklärt der gebürtige Schramberger seinen Spielern, was er von ihnen sehen will: „Den Ball, den wir hier jetzt diagonal spielen, möcht ich, dass ihr den mit Unterschnitt spielt. Okay? Aber flach! Und weiter geht’s!“ Die Spieler hören zu und machen genau das, was der studierte Sportwissenschaftler von ihnen fordert. Kein Murren, kein Knurren und das, obwohl einige Spieler deutlich älter sind als Dreyer. Wie verschafft sich der „Jungspund“ dabei die notwendige Autorität?
Yannick Dreyer: „Ich muss es ja nicht können, ich muss nur wissen, wie es geht.“
Als er 2017 mit 24 Jahren zum Co-Trainer der Herren aufstieg, versuchte er vor allem zu den älteren, erfahreneren Spielern einen guten Draht herzustellen. „Die älteren Spieler sind meistens der Schlüssel zu den Jüngeren. Hinterlässt man bei ihnen einen positiven Eindruck, überträgt sich dieses positive Gefühl auch automatisch auf die Jungen“, verrät Dreyer seine Herangehensweise. „Natürlich war ich am Anfang noch etwas ruhiger und zurückhaltender, weil da plötzlich Spieler vor mir standen, die teilweise in der 2. Bundesliga oder im Ausland in den ersten Ligen gespielt haben.“ Doch spätestens nach der dritten Einheit war die Nervosität weg und Dreyer kam aus sich heraus. „Da habe ich realisiert, dass das auch nur ganz normale Jungs sind, die einfach kicken wollen, keinen Bock auf Ausdauer-Läufe haben und in der Kabine einfach mal Quatsch machen.“ Im Umgang mit den Älteren half ihm aber auch seine abgeschlossene Schiedsrichterausbildung. Als 16-Jähriger pfiff er erstmals Herrenspiele. Somit hatte er es auch hier mit Spielern zu tun, die alle älter waren als er. „Wichtig ist, dass man überzeugend auftritt und seiner Linie und seinen Entscheidungen treu bleibt. So erarbeitet man sich Respekt, weil die Spieler dann genau wissen, dass man nicht mit sich diskutieren lässt.“ Diese Erfahrungen halfen ihm somit auch, um schneller mit der Situation vertraut zu werden. Langfristig überzeugte Dreyer seine Spieler allerdings mit seiner sportlichen und fachlichen Kompetenz. Und das, obwohl es Dreyer als Fußballer nie über die Bezirksliga hinaus schaffte. „Realistisch gesehen wäre als Spieler vielleicht die Landesliga drin gewesen oder mit ganz viel Training, einem frühen Wechsel in der Jugend und der zugehörigen Portion Glück auch die Verbandsliga“, blickt Dreyer auf seine Zeit als Spieler zurück. Ab und zu gibt es dann doch mal den „ein oder anderen Spruch“ vonseiten der Spieler in Richtung Dreyer. Doch das müsse man mit Humor nehmen und von Anfang an offen damit umgehen, dass man als Spieler selbst nie in einer höheren Liga gespielt habe. Grinsend gibt Dreyer zu bedenken: „Ich muss es ja nicht können, ich muss nur wissen, wie es geht.“
Sprüche gibt es beim heutigen Trainingsauftakt keine, dafür aber ab und zu ein Lob vom „Co“ an seine Spieler: „Gut so, Maxi!“, ruft er dem jungen Torhüter nach einer gelungenen Parade zu. Seine Autorität unterstreicht er in diesem Training auch durch seine präzisen Ansagen und Erklärungen. „Die Annahme gleich mit in den Lauf“, ruft er seinen Spielern bei einer weiteren Passübung zu. Als Co-Trainer ist Dreyer also weit mehr als nur ein „Hütchenaufsteller“.
Der Job des Trainers ist ein Studienberuf geworden
Angefangen hat alles bei seinem Heimatverein im Schwarzwald: Beim FV Kickers 09 Lauterbach. Früh engagierte er sich neben seiner Spielertätigkeit auch als Jugendtrainer. Mit gerade einmal 21 Jahren übernahm er im Februar 2015 dann die Herrenmannschaft. „Ich hab mich anfangs schon gefragt, wie ich bei meinen Kumpels in der Mannschaft ankomme und auch ob ich mit meinen 21 Jahren der Richtige bin“, erzählt Dreyer. Doch diese inneren Zweifel konnte der selbstbewusst auftretende Dreyer schnell beseitigen. Schon damals überzeugte er durch seine fachliche Kompetenz. Zu diesem Zeitpunkt besaß er nämlich schon die Trainer-B-Lizenz. Insgesamt fünf verschiedene Trainerlizenzen gibt es. Die C-Lizenz ist dabei die Niedrigste aller Lizenzen im Trainergeschäft. Es folgt die B-Lizenz, die DFB-Elite-Jugend-Lizenz und die A-Lizenz. Diese sind alle schon in Besitz des 27-Jährigen. Doch der höchste Trainerschein, der „Fußballlehrer“, fehlt ihm noch. Damit wäre er theoretisch auch dafür berechtigt, eine Bundesliga-Mannschaft zu trainieren. Wann er sich für die Eignungsprüfung des Fußballlehrers anmeldet? „Da mache ich mir keinen Druck. Doch wenn ich mich anmelde, dann möchte ich auch genommen werden.“
Denn eine Anmeldung allein reicht nicht aus. Nach der Anmeldung folgt eine Aufnahmeprüfung, die bestanden werden muss. Daraufhin wählt der DFB von etwa 100 Bewerbern 25 Teilnehmer aus. Als Ex-Profi hat man dabei oft etwas bessere Chancen, einen der begehrten Plätze zu bekommen. Doch Julian Nagelsmann, Domenico Tedesco oder Florian Kohfeldt bewiesen in den letzten Jahren, dass man auch ohne eine große Spielerkarriere zum Fußballlehrer zugelassen wird. In der Folge wurden sie von namhaften Bundesliga-Vereinen akquiriert. Der Beruf des Fußballtrainers entwickelt sich also immer mehr zu einem Studienberuf. Doch Dreyer stellt klar: „Ich würde mir nie anmaßen, die Erfahrung, die ein Spieler in einem Bundesligaspiel vor 30.000 Zuschauern gemacht hat, klein zu reden.“ Der Weg von Nagelsmann, Tedesco, Kohfeldt oder jetzt auch Dreyer ist eben anders. Es ist jener Weg, der von den Bundesliga-Vereinen aktuell immer mehr präferiert wird. Sechs der 18 Bundesligamannschaften setzen zu Beginn der neuen Saison 2020/21 auf Trainer, die als Spieler nie im Profibereich aktiv waren.
Ein Kumpeltyp als Chef
Natürlich ist es auch Dreyers Traum, eines Tages als Cheftrainer in der Bundesliga an der Seitenlinie zu stehen. Doch bis es so weit ist, muss Dreyer sich noch „weiterentwickeln und mehr Erfahrung sammeln.“ Erfahrung sammelt er aktuell auch als Trainer der U17-Bundesliga-Mannschaft der Stuttgarter Kickers. Gut gelaunt schreitet Dreyer an einem Montagmorgen als Letzter auf den Trainingsplatz. Seine Assistenten haben bereits die erste Übung aufgebaut. Dreyer unterhält sich währenddessen noch mit seinen Spielern. Es wird viel gelacht. Von außen hat man fast den Eindruck, als wären Spieler und Trainer beste Freunde. Doch dann geht das Training richtig los und der Kumpeltyp verwandelt sich zum Cheftrainer. Nach einem kurzen Warm-up erklärt Dreyer seinen Spielern die nächste Übung. Ein Spielzug mit anschließendem Torabschluss soll einstudiert werden. Während der U17-Cheftrainer die Übung erklärt, fangen zwei Spieler an, miteinander zu reden. „Willst du lieber bei der U16 mittrainieren, oder was?“ unterbricht Dreyer mit ernster Miene das Gespräch. Ein kleinlautes „Nein“ als Antwort zeigt: Dreyer weiß genau, wie er sich Respekt verschafft. Die Balance zwischen Kumpel und knallhartem Trainer muss stimmen. Dreyer ist bei seinen pubertierenden Jungs daher des Öfteren „auch mal als Hobbypsychologe“ gefragt. Dabei profitiert er selbstverständlich von seiner Anstellung als Co-Trainer bei der „Ersten“. Oft ist er bei Gesprächen zwischen Cheftrainer Gehrmann und den Spielern mit dabei. „Da kann ich mir natürlich viel abschauen, was ich dann wiederum bei meinen Jungs aus der U17 anwenden kann.“ Nach etwas mehr als einer Stunde ist die morgendliche Trainingseinheit beendet. „Ihr müsst kaltschnäuziger sein und mehr Tore machen“, ermahnt Dreyer seine Spieler. Doch im gleichen Atemzug lobt er auch jene Spieler, die heute ihre Abschlussstärke unter Beweis gestellt haben. Dreyer beendet seine kleine Ansprache im Kreis mit den Worten „Jeder der will, kann jetzt noch freiwillig etwas für sich machen.“ Keiner verlässt den Platz. Alle wollen noch weiter trainieren. Dreyer kennt seine Jungs. Die meisten schnappen sich einen Ball und arbeiten an ihrem Torabschluss, der zuvor von Dreyer bemängelt wurde. Und auch Dreyer selbst nimmt sich einen Ball, um auf das Tor zu schießen. „Du triffst eh nicht“, rufen ihm ein paar seiner Spieler lachend zu. Doch Dreyer trifft und entgegnet seinen jungen Zweiflern mit einem breiten Grinsen und einer winkenden Hand. Der Kumpeltyp kommt wieder zum Vorschein.
Der vorhin noch ernst und angespannt wirkende Dreyer schlägt nun noch ein paar Flugbälle mit seinem Assistenten. „Wenn ich mal mitkick, dann geht mir das Herz auf. Aber eben in einer anderen Art und Weise, wie wenn ich an der Linie stehe“, sagt Dreyer mit strahlendem Blick. Im Anschluss an das Training folgt eine kurze Mittagspause. Am Nachmittag stehen zwar keine weiteren Trainingseinheiten auf dem Programm, doch für Dreyer ist der Tag noch nicht beendet. Im Büro bereitet er die nächsten Trainingseinheiten für die U17 vor und wertet die Lauf-Daten der Spieler aus der Herrenmannschaft aus. Um 18:30 Uhr endet dann der Arbeitstag für den Sportwissenschaftler. Trotzdem geht es für ihn immer noch nicht nach Hause. Er trifft sich noch auf dem Bolzplatz mit seinen Freunden. Zum Kicken natürlich. Selbst der Heimweg ist bei ihm eben etwas anders.