„Er war mein bester Freund."
Das Geheimrezept
11.34 Uhr - Die kleine Schwester der Liebe
Das Kraut brodelt und dampft in einem massiven Kochtopf. Wassertröpfchen sammeln sich an den beigen Kacheln der alten Küche. Oma rührt mit einem großen Löffel langsam und in kreisenden Bewegungen Opas Leibgericht umher. Über ihre schneeweißen Haare zieht sie sich eine gestreifte Schürze an, ein Geschenk zu ihrem 90. Geburtstag. Der Duft von gekochtem Fleisch und gegarten Kartoffeln steigt mir in die Nase. Es riecht nach Kindheit. Wenn es jetzt drei Mal an der Küchentür klopft, von der mittlerweile der weiße Lack abblättert, dann fühlt es sich auch an wie früher. Damals hätte Opa die warme Küche betreten und sich an die lange Seite des Esstisches gesetzt, seine kleine Kappe neben sich auf die dunkelgrüne Bank gelegt. Aber es klopft nicht.
Jede zweite Freundschaft hält durchschnittlich nur sieben Jahre, fand der Soziologe Gerald Mollenhorst heraus. Sie sind jedoch nicht der Durchschnitt: 32 Jahre lang waren Oma und Opa befreundet, bis zu Opas Tod vor zwei Jahren. Das hier ist nämlich nicht die Geschichte einer romantischen Liebesbeziehung. Denn wen ich ganz selbstverständlich als „Opa“ bezeichne, ist eigentlich Omas bester Freund gewesen. Jeden Tag haben die beiden miteinander verbracht, ohne dass sie einmal eine Partnerschaft in Erwägung gezogen haben. „Da hätte ich gar nicht dran gedacht, wirklich nicht. Und der Hans war auf sowas auch nicht aus“, blickt Oma auf die Freundschaft zurück. „Er war mein bester Freund."
Dabei war es eigentlich lange ein vernachlässigtes Thema in der Gesellschaft: „Freundschaft war immer die kleine Schwester der Liebe“, erklärt Psychotherapeut Wolfgang Krüger. Erst in den letzten 20 Jahren habe die Thematik an Bedeutung gewonnen. Unser Verständnis von Freundschaft hat sich gewandelt. Heutzutage haben wir mehr Verlangen, über persönliche und intime Themen zu reden. „Damals waren zentrale Elemente, ob man füreinander da ist und sich umeinander kümmert“, so Krüger. Dennoch bleibt eine Sache gleich: Freundschaften sind unverzichtbar.
11.56 Uhr - Schicksalsschläge
Beide haben im selben Dorf gewohnt. Eine Straße hat sie voneinander getrennt, an der ein Baum stand, von dem ich als Kind heimlich Äpfel gepflückt habe. Sie kannten sich flüchtig, man hat sich gegrüßt. Als 1986 Opas Frau verstorben ist, kam eine Dorfbewohnerin auf Oma zu. Beide Frauen haben sich zusammengeschlossen, um dem plötzlichen Witwer und seinen Kindern abwechselnd jeden Mittag eine warme Mahlzeit zu kochen. „Nicht lange hat es gedauert, vielleicht 14 Tage, dann ist sie wieder zu mir gekommen“, erzählt mir Oma und rückt den Deckel auf dem brodelnden Topf zurecht. Sie hält kurz inne, ihre Stirn legt sich in Falten. „Sollen sie doch selber kochen“, war das Fazit der Nachbarin. Aber Oma hat ihn nicht alleine gelassen und sich weiterhin um Opa gekümmert. Dabei war sie selbst schon fast Rentnerin, als die beiden Freunde wurden. „50 Prozent der über 65-Jährigen fangen keine neuen Freundschaften mehr an“, erklärt Krüger. Dabei seien Freundschaften eines der wichtigsten Themen des Altwerdens.
So hat es sich ergeben, dass Opa jeden Mittag mit seinem rostigen, hellgrünen Fahrrad am Apfelbaum vorbei die Straße entlang gefahren ist. Gemeinsam hat er mit Oma und ihrem Ehemann gegessen. Als dieser verstorben ist, war Oma plötzlich auch alleine ohne Partner.
Freundschaften helfen laut Krüger gegen Einsamkeit und Unsicherheit. „Man braucht Bindungsseile, indem man mit anderen Menschen die Themen des Lebens bespricht.“ Und zu den Themen des Lebens gehört der Tod nun mal dazu. „Schicksalsschläge können Freundschaften überfordern“, weiß der Psychotherapeut. „In anderen Fällen können Krisen einen aber so sehr zusammenbringen, als wäre man Geschwister.“ Und so wurde Opa über die Jahre wie ein Teil der Familie.
12.00 Uhr - Gerichte und Gerüchte
Das Kraut ist mittlerweile durchgekocht. Jedes Familienmitglied hat eine große Portion auf die blau gemusterten Porzellanteller bekommen.
Anfangs hatte Oma das Essen in Töpfen bei ihm zu Hause vorbeigebracht, als die Kinder von Opa ausgezogen sind, ist er zum Essen vorbei gekommen. Nachdem beide verwitwet waren, ist er auch morgens bei ihr gewesen. „Wir haben zusammen Kaffee getrunken, bis er wieder gefahren ist. Er ist in seinen Garten runter und hat Gemüse zum Kochen gebracht, mittags war er dann wieder da“, erinnert sich Oma zurück. Pünktlich um zwölf Uhr hätte sich Opa an seinen Platz gesetzt und sein Leibgericht mit einer halben Flasche Bier genossen. Über drei Jahrzehnte war das der Alltag. Mittlerweile hat sie seinen Platz am langen Ende des Tischs eingenommen, eine Portion Sauerkraut dampft vor ihr.
„Freundschaften zwischen Männern und Frauen waren lange Zeit schwierig.“
Wolfgang Krüger erklärt, dass geschlechterübergreifende Freundschaften früher ein Ausnahmefall gewesen sind. „Freundschaften zwischen Männern und Frauen waren lange Zeit schwierig. Gerade von Seiten der Männer wurde sich oftmals eine Liebesbeziehung gewünscht.“ Nahe liegen würde, dass in unserem kleinen Dorf schnell die Gerüchte ihren Lauf nehmen würden. „Da ist nie getratscht worden“, ist sich Oma allerdings sicher.
Denn Freundschaften zwischen Männern und Frauen können funktionieren, wenn eine der drei Voraussetzungen erfüllt ist. „Das erste Kriterium hierfür“, weiß der Psychotherapeut, „ist, dass möglichst beide in einer festen Beziehung sind. Der zweite Punkt ist simpel: Sie ist nicht sein Typ.“ Der letzte Grund, weshalb eine solche Freundschaft funktionieren kann, ist wenn es wichtigere Dinge gibt als die Erotik. Beispielsweise tiefgründige Gespräche oder gegenseitige Hilfe. Letzteres Kriterium spricht wohl dafür, weshalb Oma und Opa tatsächlich nie die Freundschaftsgrenze überschritten haben. Indem Oma täglich für ihren besten Freund gekocht hat, war sie für ihn da. Diese Hilfe war auch nicht einseitig. Opa hat zu jeder Gelegenheit angepackt: Ob Hausbau oder den Acker umgraben. Er war immer für meine Familie zur Stelle.
12.24 Uhr - Pech im Spiel, Glück in der Freundschaft
Nach dem gemeinsamen Mittagessen hole ich eine rechteckige, rote Box hervor und baue die bunten Spielsteine von Mensch-ärgere-Dich-nicht auf. Papa hat meine Spielfigur zwei Mal hintereinander aus dem Feld geschmissen. Das wäre mir mit Opa nicht passiert. „Euch zwei Madle hat er gern gemocht“, stimmt Oma zu und deutet an, dass er meine Schwester und mich immer bei den Spielen verschont hat.
Früher haben wir fast täglich Brett- oder Kartenspiele gespielt, als die gesamte Familie nach dem Essen zusammensaß. Opa hat mir Mühle beigebracht und mich bei jeder Gelegenheit gewinnen lassen. Das Kartendeck von „Schwarzer Peter“ ist mittlerweile ausgeblichen, die Ränder sind abgenutzt und haben zum Teil kleine Markierungen an der Seite. Als Kind habe ich nämlich bestimmte Karten gezinkt, um sie im Spiel wiederzukennen. Wenn ich den „Schwarzen Peter“ gezogen habe, habe ich ihn immer ganz links in meine aufgefächerten Karten gesteckt. Opa, der neben mir saß, hat ihn mir jedes Mal von der gleichen Stelle abgenommen. Er war nicht nur Omas bester Freund. Er war auch meiner.
12.59 Uhr - Das Geheimrezept
Alle Teller sind abgewaschen, die Spielfiguren und Würfel sind wieder im Karton verstaut. Das gemeinsame Spielen versetzt mich jedes Mal zurück in meine Kindheit.
Auch Freundschaften halten jung. „Sie sind für das Alter unverzichtbar, noch wichtiger als in der Jugend“, erklärt Wolfgang Krüger. Denn wenn man jung sei, habe man viel mehr Möglichkeiten, Leute kennenzulernen. Wenn man also einen wahren Freund gefunden hat, sollte man daran festhalten. Das Rezept für den „perfekten besten Freund“ gibt es laut Krüger. Drei Fragen müsse man sich stellen: Wer wäre in Krisenzeiten für mich da? Wem kann ich erzählen, wie schwierig die Beziehung zu der Mutter oder dem Partner ist? Und wer ist nicht neidisch, wenn ich im Lotto gewinnen würde? „Wenn man sich solche Fragen stellt, dann bleiben höchstens drei Leute übrig. Das sind die perfekten beste Freunde.“ Mit Opa hat Oma ihren besten Freund gefunden.
Als Opa im Sterben lag, hat ihn meine Familie noch ein letztes Mal im Krankenhaus besucht. „Bin ich euch etwas schuldig?“, hat er gefragt. Nein, das war er nie. Aber als er von uns gegangen ist, hat er mehr als nur einen leeren Platz am Küchentisch hinterlassen. Auch wenn Omas Erinnerungen altersbedingt nach und nach verblassen. Hin und wieder stolpert man über eine alltägliche Situation, eine Mahlzeit, einen Duft, der an eine unvergessliche Freundschaft erinnert.
Oma sitzt außen auf einer kleinen Bank vor dem Haus. Hier hat sie unzählige Stunden mit Opa verbracht und geredet. Sie schneidet fein säuberlich Karotten und Kohlrabi für die Gemüsesuppe, die es morgen geben wird. Heute bleibt nicht mehr viel übrig, außer ein vergilbtes Kartenspiel, das an einen Menschen erinnert, der bedingungslos für meine Familie da war. Nicht mal mehr der Baum steht noch, von dem ich als Kind die Äpfel geklaut habe. Heute ist dort ein Wohngebiet, in dem sicherlich neue Freundschaften entstehen und reifen. Ob das Freundschaften sind, wie Oma und Opa sie geführt haben?