Empörungskultur

Ein Shitstorm zieht auf

Social Media hält nicht nur positive Nachrichten bereit.
27. Juni 2020

Eine Gesellschaft, in der alle zusammen moralische Grenzen bewachen können: durch Social Media ein wahr gewordener Traum. Doch kann es fair bleiben, wenn jede*r Richter*in sein darf? Ein Kommentar.

Freitagabend vor 40 Jahren: die anstrengende Woche vorbei, die Rotweinflasche geöffnet, die Familie versammelt im Wohnzimmer zum „Wetten, dass...?“-Gucken. Dann die jähe Enttäuschung. Statt spannenden Wetten verschwendet Frank Elstner die halbe Sendung mit seinem Gequatsche und statt einem internationalen Star sitzt schon wieder Udo Jürgens auf der Couch. Das Bedürfnis, der Unzufriedenheit Luft zu machen, wächst. Aber wie? Vielleicht einen wütenden Brief an das ZDF nach Mainz schreiben und auf Antwort hoffen?

Dagegen gibt es heute zahlreiche Wege, auf den schlechten „Tatort“ oder Jan Böhmermanns neuste Schmähkritik zu reagieren: nämlich online. Dem Account nicht mehr folgen, einen Tweet absetzen oder unter dem Video kommentieren sind nur einige Beispiele für unmittelbares Feedback. Unter einem Hashtag gesammelt sind tausende Tweets zu einem Thema fast nicht mehr zu ignorieren. In der Masse hat man also die Macht, etwas zu bewegen und sogar auf Missstände aufmerksam zu machen. Der Gedanke, selbst mehr Gerechtigkeit herbeizuführen und sich dabei auch noch als Teil einer großen Gruppe zu fühlen, klingt toll. Aber wie schon aus Spiderman bekannt ist: Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.

Cancel Culture – was ist das?

„To cancel“ bedeutet so viel wie „absagen“, „absetzen“. Der Begriff „Cancel Culture“ beschreibt die Bewegung, Personen des öffentlichen Lebens (zum Beispiel Musiker*innen, Schauspieler*innen und Politiker*innen) oder Firmen zu boykottieren und ihnen in sozialen Netzwerken die Unterstützung zu entziehen.

Dadurch soll den betroffenen Personen bzw. Institutionen gezeigt werden, dass die Online-Community mit einer Meinungsäußerung oder Handlung nicht einverstanden war und die Betroffenen zur Rechenschaft gezogen werden.

„Gecancelt“ wird zum Beispiel mit Entzug von Follower*innen, Likes und Kommentaren. Sind Schauspieler*innen, Regisseur*innen oder Musiker*innen betroffen, werden auch ihre Filme bzw. Musik boykottiert.

Das Internet vergisst nie

Im Mai 2020 hatte das Duo Joko und Klaas die Möglichkeit, zur Primetime auf ProSieben 15 Minuten Sendezeit frei zu gestalten. Sie entschieden sich, die Zeit zu nutzen, um auf sexuelle Belästigung an Frauen aufmerksam zu machen. Zunächst war der öffentliche Tenor positiv. Doch schnell wurden Stimmen laut, die dazu aufriefen, das Video nicht weiter zu teilen. Der Grund: 2012 „musste“ Joko bei einer Wette gegen Klaas eine Frau begrapschen. Ein absolutes No-Go und indiskutabel übergriffig? Definitiv. Das sah auch das Duo schnell ein und entschuldigte sich kurz nach Ausstrahlung der betroffenen Folge.

Menschen auf ihre Fehler hinzuweisen, ist gut. Insofern können ein Shitstorm und die „Cancel Culture“ ein wichtiges Korrektiv sein, ein Beitrag zur Basisdemokratie, in der die Stimmen vieler Einzelner gehört werden. Es kann die Chance sein, etwas zu bewegen. Gegen Lügen der Politik, Umweltsünden, ja, auch gegen sexuelle Übergriffe müssen Stimmen laut werden. Ist es aber angemessen, einen Fernsehbeitrag zu sexueller Belästigung von Joko und Klaas zu boykottieren, in dem sie selbst nicht einmal vorkommen? Ihr Video wäre anerkennenswert, ein wichtiger Beitrag zur Debatte. Denn mit ihrem Beitrag auf einem der meistgesehenen deutschen Sender haben sie auch Menschen außerhalb der „feministischen Bubble“ auf sexuelle Belästigung aufmerksam gemacht – ein Millionenpublikum.

Im Zweifel gegen den Angeklagten

Die virale Empörung hat eine gute Seite. Demokratisch, wie die vierte Macht im Staat: die Presse. Ein Korrektiv gegen Macht und Missstände, doch keinesfalls gleichzusetzen mit langjährig ausgebildeten Journalist*innen, die immer recherchieren und mehrere Meinungen hören, bevor sie sich selbst eine bilden.
Ganz im Gegensatz zur „Cancel Culture“, die für das vernünftige Für und Wider keine Zeit und keine Lust zu haben scheint. Es wird schnell „gecancelt“ und noch schneller geurteilt. Ohne die im wirklichen Gericht genutzten „Werkzeuge“ wie Verteidigung, Argumente und Belege nimmt die Bewegung teilweise hetzerische Züge an. Doch ein Shitstorm sollte sich nur gegen die wenden, die es wirklich verdienen.

Wie human und vernünftig ist es also, jede*n und alles zu „canceln“ für Ereignisse, die lange zurückliegen? Seien wir mal ehrlich: Wer von uns hat noch nie etwas getan und es später bereut? Menschen ändern sich, müssen aus Fehlern lernen, und das sei ihnen erlaubt. Denn das macht uns zu Menschen, nur so entwickeln wir uns weiter. Und wer dafür kein Verständnis aufbringen kann, hat selbst noch viel zu lernen.