Bad Guy – oder warum ich lerne, weniger nett zu sein
Ich stehe in der Schlange bei meinem Lieblingsbäcker. Hinter mir eine Mutter, deren Kind weint und jammert, es habe Hunger. Ich schaue lächelnd über meine Schulter und lasse sie vor. Doch als sie an die Theke tritt, will sie offenbar ihr Leben neu sortieren.
„Ein Körnerbrötchen. Nein, Moment, doch lieber ein Croissant. Ach, was ist eigentlich der Unterschied zwischen Mehrkorn und Vollkorn?“ Ich? Lächle geduldig. Nach fünf Minuten philosophischer Backwaren-Debatte schnappt sie sich das letzte Croissant. Und ich? Kaufe ihr Körnerbrötchen. Die Ironie: Ich hasse Körnerbrötchen.
Warum? Weil ich zu nett bin. Immer. Und das aus Prinzip. Oder nennen wir es lieber einen angeborenen Hang zur Konfliktscheuheit.
Ich verlasse die Bäckerei, das ungeliebte Körnerbrötchen in der Hand, und drücke auf Shuffle in meiner Playlist. Sofort beginnt Billie Eilish zu summen – „Bad Guy“. Ich erkenne den Song in den ersten Takten und denke: Ironie des Schicksals. Mit einem innerlichen Augenrollen wippe ich dennoch mit dem Fuß. „White shirt now red, my bloody nose / Sleepin’, you’re on your tippy toes.“ Ihre Stimme schleicht sich in meinen Kopf, wie um mir zu sagen: Vielleicht bist du einfach zu brav für diese Welt.
Und genau das frage ich mich auch: Wäre es so schlimm, einmal nicht der „Good Guy“ zu sein? Was, wenn ich – ganz Billie Eilish – einfach der „Bad Guy“ wäre? Das Croissant schnappen, das letzte Stück Pizza stibitzen, in einer Gruppenarbeit alle Aufgaben an die anderen delegieren und dann die letzten Minuten entspannt auf dem Handy verbringen. Vielleicht ist es Zeit, weniger nett zu sein. Schließlich singt Billie: ‚I do what I want when I’m wanting to / My soul? So cynical.‘“
Die Kunst des höflichen Egoismus
Zu nett sein klingt ja erst mal sympathisch. Aber lasst mich euch sagen: Es ist ein Fulltime-Job. In der Bahn stehe ich auf, wenn jemand älter als meine Spotify-Playlist aussieht. Ich helfe Kommilitonen mit Deadlines, während meine eigene To-Do-Liste leise weint. Ich höre zu, wenn jemand zum dritten Mal dieselbe Lebenskrise durchkaut – und nicke, obwohl ich innerlich längst beim vierten Kaffee bin.
Aber hier ist der Haken: Zu nett sein bringt keinen Applaus. Im Gegenteil. Es macht einen unsichtbar. Wie oft dachte ich: „Einmal nur der Bad Guy sein!“ Und gleichzeitig frage ich mich: Was würde Billie tun? Wahrscheinlich die Augen verdrehen und flüstern: „Don’t say thank you or please / I do what I want when I’m wanting to.“
Böse sein light
Und so teste ich einen „Bad Guy“-Modus in der Alltags-Choreografie. Kürzlich in der Uni: Eine Kommilitonin will, dass ich ihre Hausarbeit „noch mal kurz gegenlese“. Früher hätte ich sofort zugesagt, auch wenn meine eigene Abgabe längst in Verzug ist. Aber diesmal? „Tut mir leid, ich schaffe es nicht.“ Und – Überraschung! – die Welt ist nicht untergegangen.
Oder im Supermarkt, als jemand ohne zu fragen seinen Einkauf vor meinen stellte. Statt freundlich zu lächeln, sage ich: „Entschuldigung, ich war vor Ihnen dran.“ Ein Schwall unverschämter Selbstzufriedenheit durchströmte mich – fast so befriedigend wie das erste Stück Croissant.
Das Croissant-Dilemma
Am Ende geht es nicht darum, komplett egoistisch zu sein – sondern um Balance. Denn nett zu sein ist großartig, solange man dabei nicht selbst unter die Räder kommt. Also nehme ich mir vor: Weniger Körnerbrötchen, mehr Croissants. Weniger Deadlines anderer Leute, mehr Zeit für meine eigenen Projekte.
Ob ich dadurch zum „Bad Guy“ werde? Wahrscheinlich nicht. Aber es fühlt sich befreiend an, manchmal auf mein eigenes Croissant zu bestehen. Und wenn jemand mich dann irritiert ansieht?
Grinse ich einfach und zitiere Billie: „I’m the bad guy. Duh.“
Dieser Beitrag ist Teil des Kolumnenformats „Der Sound unserer Zeit". Weitere Folgen der Kolumne sind: