"Das Schlimmste ist der Tag, an dem einen klar wird, es wird nie mehr alles gut."
Geteiltes Leid ist doppeltes Leid
Stundenlang sprang Maike auf dem Trampolin und lachte vor sich hin. Worüber die 14-Jährige lachte, wollte sie keinem erzählen. Sie zog sich von ihrer Familie zurück, redete stattdessen mit Freundinnen, die es nicht gab: Maike lebte immer mehr in einer anderen Welt. Ihr Vater, Klaus Jaehn merkte, dass mit seiner Tochter etwas nicht stimmt: „Wir kamen nicht mehr an sie ran, sie bewegte sich in einer Scheinwelt.“ Lange wusste die Familie nicht, was hinter Maikes Verhalten steckt. Schließlich veranlasste ihr Schulpsychologe, dass sie in die Psychiatrie kam. Dort stellten die Ärzte fest: Maike ist an Schizophrenie erkrankt. Für Klaus Jaehn war die neue Situation sehr belastend. Das Schicksal teilt er mit vielen Angehörigen von psychisch Kranken.
Eine psychische Erkrankung sei nicht nur für Betroffene schwer, erklärt Karl-Heinz Möhrmann, Vorstandsmitglied des Bundesverbands der Angehörigen psychisch Kranker (BApK). Auch die Familie leide darunter. Laut dem Landesverband für Angehörige psychisch Kranker Baden-Württemberg erlebt etwa ein Viertel der Bevölkerung einmal im Leben eine psychische Krise. Mehr als die Hälfte der Betroffenen wohnen bei Familienmitgliedern.
Schuld, Scham, Schicksalsschlag
Angehörige sind laut Karl-Heinz Möhrmann zunächst verunsichert und hilflos, wenn sie erfahren, dass der Partner oder ein Verwandter psychisch krank ist. Die Familien würden sich oft fragen, warum dieses Schicksal ausgerechnet sie treffen musste. Auch Schuldgefühle plagen die Angehörigen: Was habe ich falsch gemacht, dass mein Kind oder mein Partner krank geworden ist? Laut Möhrmann haben sie meistens aber gar nichts falsch gemacht.
Auch Schamgefühle sind unter den Angehörigen weit verbreitet. „Man schämt sich gegenüber den Nachbarn, gegenüber den Leuten im gleichen Haus, gegenüber Dritten“, erläutert Möhrmann. Ihm zufolge haben die Familien Angst, was andere Leute über sie denken, denn es gebe viele Vorurteile gegenüber psychisch Kranken, zum Beispiel, dass sie gefährlich seien. Auch der Freundeskreis wisse oft nicht, wie er mit der Situation umgehen solle und nehme Abstand von der Familie. In Folge dessen vereinsamen Betroffene und Angehörige. Klaus Jaehn wurde dagegen mit Vorwürfen konfrontiert. Nach Maikes erstem Aufenthalt in der Psychiatrie, traf die Familie die schwere Entscheidung, sie in ein spezielles Kinderheim zu schicken. Dort lebte Maike sieben Jahre. Vorwürfe darüber, wie er nur sein Kind weggeben konnte, verletzten Jaehn. Heute redet er offen über Maikes Krankheit, um Vorurteile abzubauen.
Die Beziehung zum psychisch Kranken leidet laut Karl-Heinz Möhrmann ebenfalls. Angehörige seien oft verunsichert darüber, wie sie mit dem Betroffenen umgehen sollen, wenn er Symptome wie Wahnvorstellungen zeige. Für die Familie sei es auch schmerzvoll, wenn sich der Kranke ihnen gegenüber aggressiv verhalte. Auch für Klaus Jaehn zerbrach die innige Beziehung zu Maike. „Es war sehr schlimm zu sehen, dass man im Grunde seine Tochter verliert“, beschreibt er. Maike ist plötzlich zu einer Fremden geworden. Aufgewühlt erzählt Jaehn: „Sie wurde einmal wirklich handgreiflich. Das war sehr kränkend.“ Schlimm war für ihn auch, als er sie kurz nach der Einlieferung in der Psychiatrie besuchte. Maike wollte ihre Eltern sofort wieder nach Hause schicken. Diese Ablehnung habe ihn sehr verletzt. Jaehn musste Maikes Schizophrenie in seinen Alltag integrieren. „Das Schlimmste ist der Tag, an dem einem klar wird, es wird nie mehr alles gut“, schildert er betroffen.
Mitleid und Mit-Leiden
„Nicht alle Angehörigen schaffen es, mit der Situation zurecht zu kommen“, macht Karl-Heinz Möhrmann klar. Oft würden sich die Partner dann vom Betroffenen trennen. Der Stress wirke sich auch auf die Gesundheit aus: „Über 60 Prozent der Angehörigen von psychisch kranken Menschen werden im Lauf der Zeit selber krank“, so Möhrmann. Häufig würden Stresssymptome wie Tinnitus auftreten oder psychische Krankheiten wie Depressionen oder Burnout.
"Ich glaube nicht, dass ich ein besserer Mensch geworden wäre ohne diese Erfahrung, ganz im Gegenteil."
Die Familie muss laut Möhrmann lernen, toleranter zu sein. „Man muss gewisse Verhaltensweisen akzeptieren und nicht gleich an die Decke gehen, wenn sich der Kranke komisch verhält.“ Außerdem könnten die Angehörigen aus der Erfahrung mit dem psychisch Kranken etwas für den Umgang mit anderen Menschen mitnehmen. Man versetze sich unwillkürlich in Andere hinein und versuche, die Gründe hinter ihrem Verhalten zu verstehen. Auch Klaus Jaehn denkt, dass ihn das Zusammenleben mit Maike verändert hat: „Ich glaube nicht, dass ich ein besserer Mensch gewesen wäre ohne diese Erfahrung, ganz im Gegenteil.“ Er sei jetzt demütiger und wisse, dass ein gutes Leben nicht selbstverständlich ist.
Maike geht es heute sehr gut. Seit zehn Jahren ist ihr Zustand stabil, sie nimmt Medikamente und hat ihre Krankheit im Griff. Zu ihren Eltern hat die 33-Jährige heute ein sehr gutes Verhältnis, wie Klaus Jaehn stolz erzählt. „Sie ist ein wunderbares Mitglied unserer Familie und macht es uns leicht, zu ihr zu stehen und mit ihr alle Freuden zu teilen.“