Soziale Arbeit 5 Minuten

Zwischen Suchtprävention und Liebeskummer: Alltag an einer „Brennpunktschule“

Vanessa, Schulsozialarbeiterin
Vanessa (24) ist Vertrauensperson für 350 Schüler*innen | Quelle: Vanessa Wörz
01. Juli 2024

Vanessa ist Sozialarbeiterin an einer Realschule in Fellbach, die als „Brennpunkt“ gilt. Im Interview spricht sie über ihre täglichen Herausforderungen, darunter der Umgang mit Drogenproblemen und Konflikten zwischen Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern. 

Vanessa, in der siebten Klasse wird bei euch das Thema Sucht- und Alkoholprävention angegangen. Gibt es da auch Kinder, die in diesem Alter tatsächlich schon ein Alkoholproblem haben?

Es ist tatsächlich weniger der Alkohol, der ein Thema ist, sondern viel mehr das Rauchen, Vapen und Kiffen. Es gibt eigentlich immer zwei bis drei Kinder pro Klasse, die damit schon Erfahrungen gemacht haben und teilweise auch regelmäßig rauchen oder kiffen. Dementsprechend sind sie dann noch ein bisschen neugieriger bei dem Thema. Das merkt man auch anhand der Fragen, die gestellt werden. 

Reden sie mit dir offen darüber?

Je nachdem, wie unsere Beziehung zueinander ist. Manche sind da mega offen, kommen zu mir und sagen, dass sie gestern gekifft haben, und dies und das passiert ist. Andere stellen eher indirekt Fragen wie „Ich habe von Freunden gehört..., stimmt das?“ und versuchen es dann auf diese Art. 

Die Kinder wissen also, dass so etwas unter euch bleibt?

Ich habe Schweigepflicht, sowohl vor Eltern als auch vor Lehrer*innen und anderen Schüler*innen. Alles, was bei mir im Büro erzählt wird, bleibt auch bei mir. Es gibt eine Ausnahme, und zwar wenn ich akut Angst haben muss, dass sie sich selbst oder andere gefährden. Also wenn sie mir mit einem konkreten Plan erzählen, sie möchten sich umbringen, hört da die Schweigepflicht auf. Dann sage ich, wir reden jetzt zusammen mit ihren Eltern oder mit einer anderen Vertrauensperson, weil das ein Moment ist, in dem ich das nicht mehr verantworten kann. Und es überfordert mich natürlich auch, weil ich keine ausgebildete psychologische Fachkraft bin. Da müssen dann andere mit dabei sein.

Gab es so einen drastischen Fall schon mal?

Also wegen Suizid noch nicht, bei mir zumindest. Aber ich hatte schon eine Schülerin, die von ihren Eltern schwer misshandelt wurde und mit blauen Flecken auf dem ganzen Körper zu mir kam – richtigen Blutergüssen. Da musste ich dann natürlich das Jugendamt anrufen. Zuerst war ihr das super unangenehm, sie wollte es am Anfang auch nicht. Ich habe dann mit ihr geredet und sie hat doch zugestimmt, dass das Jugendamt zumindest zu einem Gespräch dazukommen darf. Wir hatten dann ein Gespräch mit Dolmetschern, da sie aus der Ukraine kam. Inzwischen ist sie wieder in ihrer Familie, seitdem läuft es auch eigentlich ganz gut. Und sie weiß mittlerweile, dass sie immer zu mir kommen kann, und erzählt mir immer wieder, wenn doch mal etwas ist. Aber seitdem ist nichts Dramatisches mehr vorgefallen. Die Eltern haben jetzt eine Betreuung aus dem Jugendamt, was sehr unterstützend ist. Eltern schlagen ihre Kinder ja nicht einfach aus Spaß. Die sind halt super überfordert, was es nicht rechtfertigt, aber es erklärt.

Bist du an deiner Schule die einzige Sozialarbeiterin?

Ja. Es ist festgelegt, wie viele Schüler*innen eine sozial arbeitende Person betreuen sollte.

Wie viele Schüler*innen betreust du?

Ungefähr 350. Das ist ein bisschen mehr als vorgesehen. Es wäre besser, wenn ich noch jemanden hätte, aber das ist eben auch immer mit den Geldern der Stadt verbunden.

Denkst du manchmal, dein Job wäre einfacher, wenn du ein Mann wärst?

In manchen Aspekten wäre es auf jeden Fall einfacher. Ich glaube aber, es geht auch männlichen Sozialarbeitern so, dass sie manchmal denken, es wäre einfacher, eine Frau zu sein, weil du einfach immer andere Zugänge zum jeweiligen Geschlecht hast. Für mich ist es super einfach, mit den Mädels zu connecten, weil sie mir Sachen erzählen wie: „Ich habe Jungsprobleme“, „Ich habe meine Tage“ oder „Ich finde mich fett“. Andererseits werden Sozialarbeiter einfach anders respektiert, gerade von pubertären Jungs. Irgendwann kommt der Moment bei den Jungs, da wird die Sexualität super interessant und Grenzen werden ausgetestet, sowohl im eigenen Umfeld als auch bei Erwachsenen. Da wird dann geschaut, wie weit sie gehen können. Ein männlicher Kollege würde das natürlich nicht so abbekommen, auch nicht Kommentare darüber, dass Frauen doch in die Küche gehören. Manchmal sind das anstrengende Diskussionen, die du führen musst – die sind zwar super unangenehm, aber genauso wichtig.

Was passiert eigentlich, wenn ein Schulkind sich einfach nicht bessern will? 

Das kommt natürlich vor. Es ist ein Jugendalter, da ist einfach viel Rebellion dabei. Es ist eine Entwicklungsaufgabe, die ist wichtig für die Kinder. Und natürlich gibt es dann auch Situationen, in denen ein Kind sagt, es will eigentlich gar nichts mit mir zu tun haben. Aber meine ersten zwei Punkte in diesen Gesprächen sind immer, dass ich Schweigepflicht habe und ihr Besuch freiwillig ist. Wenn sie keine Lust haben, dürfen sie jederzeit gehen. Natürlich kommt es auch vor, dass sie darauf keine Lust haben. Sie wissen aber von den Konsequenzen. Wenn sie das nicht annehmen, gibt es halt Strafen aus dem Schulstrafenkatalog. Und die meisten nehmen es dann doch an, weil es ihnen schon lieber ist, mit mir zu reden, als nachzusitzen oder Unterrichtsausschluss zu bekommen. 

Hast du das Gefühl, die Schüler*innen sehen dich eher als eine von ihnen oder als eine der Lehrer*innen? 

Gerade für die Kleineren bin ich eher eine Lehrerin, die können das noch nicht so gut auseinanderhalten. Bei den Älteren schwankt es etwas, da ich noch relativ jung bin im Vergleich zu den anderen Lehrkräften. Die sprechen dann oft, als ob ich ihre Freundin wäre. Da muss ich zwischendurch auch immer mal wieder klarstellen, dass ich immer noch ihre Schulsozialarbeiterin bin. Aber es ist eigentlich ganz cool. Sie kommen dann und erzählen mir von ihren Liebesproblemen oder wer sie gerade voll genervt hat. Das fehlt ja bei vielen Jugendlichen: Die gehen zu ihren Eltern, beschweren sich und die Eltern kommen mit irgendwelchen Lösungen, die sie gar nicht hören möchten. Manchmal möchten sie sich einfach nur auskotzen. 

Was gefällt dir am besten an deinem Job? 

Jugendliche sind superehrlich in ihren Reaktionen. Ich werde im Schulgang immer begrüßt und spüre, dass sie sich freuen, mich zu sehen. Sie kommen zu mir, weil sie Bock haben auf das, was ich mache. Bei uns gibt es einen Schülertreff, den ich in den Pausen aufmache und der immer voll ist. Gerade die Fünftklässler sind ja noch sehr kindlich, wenn ich ein paar Mal bei denen in der Klasse war, kommen sie auf mich zugerannt und fragen, wann ich wieder in die Klasse komme. Oder die Älteren fragen mich, ob ich zu ihrem Abschluss kommen möchte. Da merke ich, dass ich willkommen bin und sie wollen, dass ich da bin. Das gibt mir mega viel zurück.