„Ich habe mich immer gefragt: Warum bin ich so anders als die anderen? Warum kriege ich nichts auf die Reihe?"
Wenn TikTok zur Arztpraxis wird
Nicole* sitzt mit ihrer Kuscheldecke auf ihrem braunen Sofa und scrollt durch ihren TikTok-Feed, als ihr ein Video auffällt. Ein Mädchen in ihrem Alter spricht über eine psychische Erkrankung, die sie bereits seit ihrer Kindheit begleitet. Während sie detailliert von ihren Symptomen und Erfahrungen berichtet, klingt ihre Stimme beruhigend und eindringlich zugleich. Neugierig und gespannt lauscht die 25-Jährige den Worten im Video. Als sie merkt, dass einige Symptome auch bei ihr zutreffen, hat sie zum ersten Mal das Gefühl, mit ihren Problemen nicht alleine zu sein. Und während sie weiter durch ihren Feed scrollt, quält sie der immer selbe Gedanke: „Ich habe mich immer gefragt, warum bin ich so anders als die anderen, warum kriege ich nichts auf die Reihe.“
Die zunehmende Verbreitung des Internets und die Digitalisierung haben dazu geführt, dass immer mehr Menschen online auf medizinische Informationen zugreifen können. Laut einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom googelt jede*r Zweite in Vorbereitung auf einen Arztbesuch seine Krankheitssymptome.
Mittlerweile ist der Trend auch bei der Social-Media-Plattform TikTok angekommen. Am beliebtesten sind derzeit Diagnose-Videos, die Anzeichen von ADHS und Depressionen zeigen. Oft handelt es sich dabei um sogenannte Selbsttests, bei denen die Zuschauer aufgefordert werden, ihr eigenes Verhalten zu analysieren und mit den gezeigten Symptomen zu vergleichen. Nicole hört von Anzeichen wie: Unaufmerksamkeit, Impulsivität, ständig wechselnden Hobbys, Unordnung und vieles mehr. Nach wenigen Übereinstimmungen ist die Diagnose klar: „Sie hat ADHS.“
Die Pädagogin Madlen Gräbner wundert das Verhalten von Nicole nicht. Da es sich in den Diagnosevideos zu ADHS meist um Charaktereigenschaften handelt, fühlen sich viele Nutzer*innen angesprochen. Jedoch betont sie, dass die Übereinstimmung der wenig gezeigten Symptome dabei noch lange nicht ausreichen, um eine richtige Diagnose stellen zu können.
TikTok führt zu ADHS-Verdacht bei Krankenschwester
Die soziale Plattform ist unter anderem für ihre unterhaltsamen Videos bekannt. Für die Krankenschwester Nicole könnte TikTok jedoch der ausschlaggebende Hinweis für die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung gewesen sein.
Vor ihrer Erkenntnis über TikTok hatte sie sich noch nie mit dieser Krankheit beschäftigt. Auch auf die Diagnose-Videos sei sie nur zufällig gestoßen. Die 25-Jährige berichtet, dass der Algorithmus sich sehr schnell an das Interesse solcher Videos angepasst hätte. Seitdem ist TikTok zu einer Art ADHS-Bubble geworden, die sie täglich mit neuen Diagnose-Videos und Informationen versorgt. Sie erkennt sich in einigen der Beschreibungen wieder und fühlt sich verstanden.
Nicole erkennt rückblickend, dass sie die Symptome, die in den Videos behandelt werden, seit Jahren hatte. Als Kind wurde sie von ihren Eltern und Lehrer*innen oft als faul bezeichnet, da sie sich schwer konzentrieren und ihre Aufgaben nicht rechtzeitig erfüllen konnte. Doch auf die Idee, dass sie an einer Krankheit leiden könnte, kam damals niemand.
Die 25-Jährige rät dazu, sich die Diagnosevideos zunächst neutral anzuschauen und keine Selbstdiagnosen zu stellen. Besonders als Krankenschwester ist sie sich darüber bewusst, Diagnosen nur von qualifizierten Fachleuten wie Medizinner*innen oder Psycholog*innen stellen zu lassen. Sie selbst plant demnächst eine psychologische Einschätzung zu ihrer Vermutung einzuholen.
Gefahren von Selbst-Diagnosen über das Internet
Nach Einschätzung des Facharztes für Innere Medizin, Dr. Kaddour, suchen immer mehr Menschen im Internet nach Informationen über ihre Symptome, bevor sie einen Arzt oder eine Ärtzin aufsuchen. Doch dieses Verhalten kann zu Problemen führen, warnt er. In seiner Praxis konnte er eine Zunahme von Selbstdiagnosen beobachten. Besonders auffällig sei dabei, dass sich dieses Phänomen vor allem unter jungen Menschen ausbreite. Oft können solche Diagnosen dazu führen, dass sich die Patient*innen zu sehr auf die selbstgestellte Diagnose versteifen. Der Facharzt betont daher die Wichtigkeit, sich bei gesundheitlichen Problemen immer eine professionelle Meinung einzuholen und sich nicht auf Informationen aus dem Internet zu verlassen.
Ähnlich sieht das auch Frau Gräbner. Die Pädagogin ist aktuell in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie beschäftigt. Grundsätzlich findet sie den TikTok-Trend nicht schlecht, um sich zu informieren. Sie warnt aber auch davor, dass die Diagnosevideos niemals Psychlog*innen oder Therapeut*innen ersetzen können. Viele Diagnosevideos auf TikTok seien laut ihr oft mit Fehlinformationen bespickt, die sich teilweise auch auf andere Krankheiten beziehen. Dies wurde auch von einem Team kanadischer Forscher in einer Studie bestätigt: Von 100 Diagnosevideos enthalten 50 falsche Informationen.
Besonders die jungen TikTok-Nutzer*innen sind laut der Pädagogin und dem Facharzt gefährdet, da sie möglicherweise noch nicht in der Lage sind, die Informationen auf der Plattform richtig zu differenzieren. Die in den Videos gezeigten Symptome können sich durch den ständigen Konsum auf die Nutzer*innen übertragen. Außerdem können Falschdiagnosen dazu führen, dass andere Krankheiten übersehen werden.
Doch viele TikToker*innen scheinen dieses Risiko bewusst in Kauf zu nehmen. Für Nicole liegt der Grund dafür auf der Hand: „Klicks, Fame, Geld und Likes, das ist doch klar".
Ein anderes Ziel verfolgt nach eigener Aussage die 22-jährige TikTokerin Patricia. Sie möchte versuchen, die Krankheit positiver anzusehen, da die ADHS-Bubble ihrer Meinung nach sehr negativ geprägt sei. Außerdem möchte sie mehr Bewusstsein und Aufklärung schaffen.
Im Alter von sechs Jahren wurde bei ihr ADHS diagnostiziert - als Teenager verdrängte sie den Gedanken an die Krankheit. Erst durch Videos auf TikTok wurde sie im zunehmenden Alter wieder auf die Krankheit aufmerksam. Patricia entschied sich dazu, einen Psychologen aufzusuchen, der ihre Diagnose erneut bestätigte.
Die 22-Jährige versteht jedoch auch die Kritik, dass die Krankheit durch solche Videos verharmlost wird und vor allem auch eine Gefahr für junge Menschen darstellt. Patricia findet aber, dass sie nicht für das Verhalten der Zuschauer*innen verantwortlich gemacht werden kann. Sie persönlich achte immer darauf, lediglich Inhalte hochzuladen, die sie hinterfragt und recherchiert hat.
„Am Ende des Tages muss man sich darüber bewusst sein, dass TikTok eine Unterhaltungsplattform ist."
Es ist wichtig, die Gefahren und Risiken des aktuellen Mental-Health-Trends insbesondere für die jungeren Nutzer*innen nicht außer Acht zu lassen. Deren Schutz sollte oberste Priorität haben, um die Möglichkeiten des Internets auch in Zukunft sichern zu können.
Patricia betont abschließend: „Am Ende des Tages muss man sich darüber bewusst sein, dass TikTok in erster Linie eine Unterhaltungsplattform ist."
*Der Name der Protagonistin wurde geändert.