Der Mainstream ist für meine Begriffe der Tod der Spitzenküche.
Von der Hausfrauenküche zu Rockstars im Sterne-Himmel

Wir haben das Netzwerk der deutschen Sterneküche analysiert und einen besonderen Blick auf die Ausbildungswege deutscher Köch*innen geworfen. Den Rahmen dafür gab der deutsche Michelin-Guide 2023. Auf den ersten Blick fällt auf: In der Sternküche steht der Mann am Herd.
Die Frauen verschwanden schnell
Nur circa 3,5 Prozent der Sterneköch*innen waren im Jahr 2023 weiblich. Laut Gourmetkritiker Jürgen Dollase war das während der Entwicklung der Spitzengastro mal anders: „Die ersten Sterne wurden ausschließlich von Frauen erkocht. Die Spitzengastronomie hat sich aus der Hausfrauenküche entwickelt. Aus guten Köchinnen wurden gute Restaurantköchinnen und aus den überragenden unter ihnen Spitzenköchinnen.“
Doch wer sich heute einen Besuch im Sternerestaurant gönnt, findet keine Hausfrauenkost und traditionelle Küche, sondern kleine Kunstwerke. Und damit auch mehr Männer. „Man könnte sagen, dass in dem Maße, in dem die Küche artifizieller wurde, sie für die Männer interessanter wurde und die Frauen verschwanden. Man, oder besser Mann, hat sich einfach diesen Platz genommen, weil man die Rolle des Kochstars für sich beansprucht hat und das attraktiv fand“, erklärt Dollase.
Als Koch könne man jemand werden. Als Sternekoch sogar eine Art Rockstar in der Küche – mit allem was dazu gehört: schnelle Autos, viel Geld ausgeben und so richtig auf den Putz hauen. Obwohl man sich nach außen als seriöser Koch mit weißer Weste und Haube gebe. Ein Selbstverständnis, das der Gourmetkritiker als typisch männlich interpretiert und das für Frauen, besonders in der oft engen und hierarchischen Küche, keinen Platz lasse.
Wer ist Jürgen Dollase?
Jürgen Dollase ist ein deutscher Gastronomiekritiker und Journalist. Er arbeitet als Restaurantkritiker und Feinschmecker, unter anderem für die „F.A.Z.“, „Feinschmecker“ oder das „Fine – European Wine Magazine". Zu kulinarischen Themen schrieb er außerdem einige Bücher.
Insgesamt hinterlässt die rasante Entwicklung der deutschen Spitzenküche einen bitteren Nachgeschmack bei Dollase. Allein von 2022 auf 2023 sind 43 neue Restaurants mit Sternen ausgezeichnet worden. Jahr für Jahr bricht die Anzahl der Sterneküchen ihre eigenen Rekorde. Jürgen Dollases feines Näschen wittert dabei eine Art Schneeballsystem. Die Standards, die ein Restaurant erfüllen muss, um einen oder mehrere Sterne zu erhalten, müssten deutlich höher angesetzt werden, fordert er: „Grundsätzlich kann ein Schneeballeffekt nur wirken, wenn es einen Raum gibt, in dem er sich entfalten kann. Wenn es seine Aufgabe wäre, würde er mindestens 50% der Restaurants einen Stern abnehmen, einigen auch den zweiten. Denn die Masse der Sterne mache diese nieder: „Es ist nicht falsch zu sagen, dass es gut ist, was da passiert. Ich möchte betonen, dass ich nicht von sehr gut spreche, sondern von gut. Wenn etwas nur gut ist, ist der Mainstream aber nicht weit. Und der Mainstream ist für meine Begriffe der Tod der Spitzenküche."
Immer mehr Köche greifen schnell nach den Sternen
Genauso steil wie die Wachstumskurve der Sternerestaurants sind jedoch auch die Lebensläufe ihrer Chefköch*innen. Ein Blick auf die Dichte unseres Netzwerkes bestätigt: aufstrebende Köch*innen durchlaufen immer weniger Küchen. Bedingt durch den Fachkräftemangel werden sie oft direkt aus der Ausbildung übernommen und arbeiten sich schnell hoch. Zeitgleich mischen sich immer mehr Köch*innen unter, die wenige Verknüpfungen mit anderen vorweisen. Das heißt, sie haben sich ihren Stern quasi im Alleingang erkocht oder sind ohne Umwege in die hohen Ränge der Spitzengastronomie aufgestiegen. Wie Dollase erläutert, komme es jedoch auf langjährige Erfahrung als Sous-Chef, also quasi als Stellvertreter des Chefkoches, an: „Wer lange in einer solchen Position war, hat eine solide Ausbildung und bringt eine gewisse Kompetenz mit, die sich in der Qualität der späteren Arbeit widerspiegelt. Das ist die Basis der deutschen Spitzengastronomie“.
Ein Ausbildungsbetrieb sticht dabei besonders hervor: „Woher die guten Leute kommen? Aus der Schwarzwaldstube, früher unter Harald Wohlfahrt und jetzt unter Thorsten Michel. Das ist ein Betrieb mit kulinarischer Ausstrahlung. Das Handwerk und die Stilistik dieser Köche sind in der ganzen Szene bekannt“, berichtet Dollase. Die Schwarzwaldstube brachte vier 3-Sterne, zehn 2-Sterne und elf 1-Stern Köch*innen hervor. Damit lernten mehr als die Hälfte der aktuellen 3-Sterne Köch*innen und knapp unter 50% der 2-Sterne Köch*innen von Harald Wohlfahrt und Thorsten Michel.
Wie man sehen kann, ist die Dichte des Netzwerkes rund um die Schwarzwaldstube besonders hoch. Die Lehrmeister und ehemaligen Azubis sind also bis heute eng miteinander verbunden. Eine Ausbildung in der Schwarzwaldstube ist zwar kein Garant für den Erfolg, dennoch ist sie innerhalb des Sternenhimmels als Talentschmiede bekannt. Wer also dort seine Ausbildung macht, hat gute Chancen später ein weiterer Rockstar der Sterneküche zu werden. Doch je mehr junge Auszubildende sich für diese Karriere entscheiden, desto mehr wird Dollases Befürchtung befeuert. Der Gourmetkritiker sieht klar einen Trend, dass die Zahl der Sternerestaurants weiterwächst und dadurch die Exzellenz der Spitzenküche gefährdet wird. Vielleicht könnte es der Branche einen neuen Glanz verleihen, wenn wieder mehr Frauen am Gastro-Sternehimmel ihren Platz finden würden.
Dieser Artikel bezieht sich auf eine Netzwerkanalyse über die deutsche Spitzengastronomie. Dafür haben wir alle Restaurants, die Stand 2023 in Deutschland mit einem oder mehreren Michelin-Sternen ausgezeichnet waren, untersucht. Viele Sterneköch*innen haben ihr Handwerk in den gleichen Restaurants gelernt, andere haben im Lauf ihrer Karriere zusammengearbeitet und sich gegenseitig inspiriert. Außerdem haben wir die Verteilung der Sternerestaurants nach Bundesländern und den jeweiligen Küchenstil der Restaurants betrachtet.
Für die Datenerhebung haben wir die Webseite des Michelin Guides benutzt.
Der Datensatz und das Codebuch sind auf GitHub verfügbar.
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