„Ich wollte raus. Ich wollte die Welt mit eigenen Augen sehen, spüren, riechen und schmecken“
November 1982, eine Frau sitzt im Zug, auf dem Weg zurück von Ost-Berlin nach Lugoj, ihrem Wohnort in Rumänien. Sie macht sich Sorgen um ihren Pass, weil ein ungarischer Zöllner ihr diesen entziehen will. Sie ist ohne ihren Ehemann zurückgereist. Das macht den Zöllner stutzig. Er vermutet, dass sie ihn reinlegen will. Sie beteuert, dass sie sich mit ihrem Ehemann gestritten habe und sie deshalb nun getrennte Wege gehen würden. Sie wisse nicht, wo er sich aufhalte. Daraufhin fließen Tränen über ihre Wangen. Der Ungar berät sich mit seinem rumänischen Kollegen und entscheidet sich, der Frau ihren Pass zurückzugeben. Der Zöllner sagt dabei: „Ich wusste nicht, dass die rumänischen Frauen nicht nur schön, sondern auch klug sind.“
Zwei Jahre später zieht diese Frau mit ihren Kindern, einem Mädchen und einem Jungen, nach Deutschland. Dort wollen sie einen Neuanfang starten. Diese Frau ist meine Oma, ihre Kinder sind meine Mutter und mein Onkel. Ich sitze, über vierzig Jahre nach der Ausreise, bei meinen Großeltern im Wohnzimmer und lausche gespannt der Geschichte, wie es dazu gekommen ist. Meine Oma sitzt neben mir am Esstisch mit ihren Dokumenten und Bilder in der Hand. Beim Erzählen zittert ihre Stimme in manchen Passagen und es fließen oftmals Tränen. Es ist merkbar, dass diese Ausreise meine Oma enorm geprägt hat und immer noch, nach so einer langen Zeit, bewegt.
Der kalte, sozialistische Osten
In den achtziger Jahren war Rumänien bereits seit über dreißig Jahren stark sozialistisch geprägt, wie fast alle Staaten Osteuropas. Die Freiheiten der Bürger*innen wurden in diesen Ländern stark eingeschränkt, ganz besonders die Reisefreiheit. Niemand konnte einfach dorthin reisen, wo er wollte.
Das Leben in Rumänien
Tiere füttern, Wasser aus dem Brunnen holen, Ställe sauber machen und allerlei Tiere hüten, all das gehörte für sie zum Alltag. Aber meine Oma wollte mehr: „Ich wollte raus. Ich wollte die Welt mit eigenen Augen sehen, spüren, riechen und schmecken“, erzählt sie mit einem Lächeln im Gesicht.
1970, sie hatte die Schule und die Berufsschule hinter sich, begann sie erst einmal in einem Haushaltswarengeschäft zu arbeiten. Sie stieg relativ schnell von Verkäuferin zur Geschäftsführerin auf. Nebenbei spielte sie Handball.
Meine Oma war kontaktfreudig: Baute sich ein großes Netzwerk auf. Das half einem in der damaligen Gesellschaft und hab ihr auch immer wieder die Möglichkeit, anderen mit irgendetwas weiter zu helfen. Sie sagt, sie sei dadurch gut über die Runden gekommen: „In Rumänien ging es uns nicht schlecht.“ Die reine Lebenssituation war somit nicht der hauptsächliche Grund für die Ausreise. Was also dann?
Reise- und Abenteuerlust
Andere Kulturen zu sehen, kennenzulernen und zu erleben, hat meine Oma ihr Leben lang begeistert. In Sozialistischen Ländern gab es diese Reisefreiheit nicht in der Form, wie in den westlichen, demokratisch geprägten Ländern. Eine Reisegenehmigung gab es nur für andere sozialistische Länder wie zum Beispiel Nordkorea und Kuba. Meine Oma wollte mehr als nur die begrenzte Anzahl der immer gleichen Länder auf der Welt sehen. Das ging nur, wenn man den eisernen Vorhang des Ostens verließ. In Rumänien habe sich meine Oma wie „ein Vogel im Käfig“ gefühlt.
Diese Sehnsucht war ein ungeheuer starker Antrieb für den Entschluss, Rumänien zu verlassen. Gleichzeitig hoffte sie, ihren Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen. „Ich habe zuerst gedacht, das ist das Beste, was ich für die Zukunft meiner Kinder machen kann.“
„Ich habe zuerst gedacht, das ist das Beste, was ich für die Zukunft meiner Kinder machen kann.“
Der Anfang vom Ende eines Lebensabschnitts
Bevor meine Großmutter im Anfang erwähnten November 1982 zurück nach Rumänien fuhr, reiste sie gemeinsam mit meinen Großvater nach Ost-Berlin. Die Kinder blieben währenddessen bei ihren Großeltern. Diese Reise war als eine normale zweiwöchige Urlaubsreise geplant. Meine Oma hatte, als die Geschäftsfrau, die sie war, einen Koffer mit ihren Privatsachen und einen weiteren Koffer mit Waren zum Verkaufen dabei, um sich diese Reise finanziell leisten zu können. Sie wollte Dinge wie ein Service aus Porzellan, handgemalte Kristallgläser oder Porzellanfigürchen auf der Durchreise nach Ost-Berlin auf Märkten, in z. B. Ungarn bzw. Budapest verkaufen.
Über Polen fuhren die beiden weiter nach Ost-Berlin, wo sie eine Unterkunft in Berlin-Pankow fanden. Sie besuchten wie alle Touristen, Attraktionen besucht, unter anderem den Zoologischen Garten, den Fernsehturm und den Alexanderplatz.
Eine ganze Woche verbrachten sie in Ost-Berlin. In dieser Zeit wurde die zuvor nur vage Idee, Rumänien zu verlassen, in den Köpfen meiner Großeltern zu einer endgültig beschlossenen Sache. Sie hatten sich dort so wohl und willkommen gefühlt, dass ihr Bauchgefühl sagte, das ist das Beste für unsere Familie, und es ist das, was wir wollen. Also teilten sich meine Großeltern auf und meine Oma fuhr mit ihrem Hab und Gut zurück nach Rumänien zu ihren Kindern. Mit dem Zug von Ost-Berlin nach Lugoj. Währenddessen war mein Opa auf dem Weg nach Westdeutschland, um die Verwirklichung der Idee umzusetzen. Aber dies ist eine andere Geschichte.
Der Weg zurück
Ihre Heimreise führte meine Oma über Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn. Meistens musste sie nur einige Stunden auf den Anschlusszug warten, einmal jedoch den ganzen Tag. Meine Oma begegnete fast immer ihre Mitreisenden mit Dankbarkeit und Freundlichkeit. Wenn ihr auf der Zugfahrt eine fremde Familie begegnete, die hungrig aussah, teilte sie bereitwillig ihr Essen mit ihnen.
Als der Zug nach der ereignisreichen und von vielen Umstiegen unterbrochene Fahrt in Rumänien ankam, wurden einige Habseligkeiten meiner Oma gestohlen. Nach einem Blick in ihren Koffer merkte sie, es fehlt ihr Deo und Seife. Meine Oma reagierte darauf aber nicht erbost oder verärgert, nein, sie reagierte erleichtert: „Gott sei Dank, ich bin in Rumänien, ich bin zu Hause.“ Auf die verwirrten Nachfragen, warum sie sich so erleichtert zeige, entgegnete meine Oma: „Mein Deo und eine Seife klauen, das machen nur die Rumänen.“ Während sie das erzählt, lacht meine Oma dabei. Zu Hause, bei ihren Kindern, angekommen, konzentrierte sich meine Oma darauf die Ausreisepapiere zu beantragen und die nötigen Behördengänge zu erledigen.
Die letzten zwei Jahre in Rumänien
Sie arbeitete weiterhin als Geschäftsführerin im Laden, um genügend Geld für sich und ihre Kinder zur Ausreise anzusparen. Als Folge der Beantragung zur Ausreise und der erteilten Genehmigung dieser wurden meine Oma, meine Mutter und mein Onkel staatenlos. Ihre Pässe mussten sie abgeben, zusätzlich musste sie ihre Eigentumswohnung an den Staat weiterreichen. Ihre Stelle als Geschäftsführerin gab sie erst zwei Wochen vor der Ausreise auf, nachdem sie ihren Nachfolger eingearbeitet hatte. In den letzten Monaten in Rumänien, musste meine Oma sogar Miete für die Wohnung zahlen. Zu guter Letzt verschenkte sie ihr Hab und Gut. Meine Oma wanderte also ohne jeglichen Besitz nach Deutschland aus.
Die Reise zur neuen Heimat Deutschland
Inzwischen war es August 1984. Mit vier Koffern, zwei an ihren Armen ziehenden Kindern und einer Vespertasche trat sie diese Reise an. Meine Mutter war damals neun Jahre alt und mein Onkel vier. Als sie den Zug nach Nürnberg erreichten und aus Rumänien rausfuhren, war ein ganzes Kapitel in ihrer Lebensgeschichte abgeschlossen. Ein neues Kapitel stand nun vor der Tür. Nach einer fast ganztägigen Fahrt betrat sie in Nürnberg zum ersten Mal in ihrem Leben westdeutschen Boden. Freude oder Erleichterung waren nicht die ersten Emotionen, die sie fühlte. Am Bahnhof in Nürnberg, spät in der Nacht, erspähte sie Fahndungsfotos von Terroristen der RAF und sah Obdachlose im Bahnhof auf dem Boden schlafen. Da alle Busse zur Erstaufnahmestation schon abgefahren waren, organisierte sie für die Nacht in der Bahnhofsmission eine sichere Übernachtungsmöglichkeit. Am Morgen danach wurden sie in der Erstaufnahmestation, mit vielen anderen Auswanderern aus Rumänien zusammen aufgenommen und drei Tage später kam mein Opa, um die Familie abzuholen. Über die Übergangslager Rastatt und Nagold haben sie ihre heutige Heimat in Sindelfingen gefunden, wo sie bis heute noch wohnen. 1985 wurden meine Großeltern, meine Mama und mein Onkel eingebürgert.
In der Zeitperiode 1980 bis 1984 sind 72.824 Spätaussiedler aus Rumänien nach Deutschland migriert. Insgesamt sind von 1950 bis 2018 430.336 Personen aus Rumänien nach Deutschland gezogen.
Epilog
Meine Oma arbeitete weiterhin im Fachhandel und wechselte später zur Post, wo sie über 25 Jahre bis zu ihrer Rente arbeitete. Sie ist seit nunmehr sieben Jahren in Rente. Auch wenn der erste Eindruck von Deutschland nicht positiv war, zeigte meine Oma in dem Gespräch mit mir über ihre Ausreise eine große Dankbarkeit gegenüber ihrer neuen Heimat. Sie betonte auch die ungewisse Zukunft in Rumänien und das für sie eine Ausreise der bestmögliche Ausweg aus dieser Ungewissheit für sich und ihre Familie war. Nach mehreren Stunden vom Erzählen ist meine Oma sichtlich emotional erschöpft, sie steht vom Esstisch auf und geht zum Sofa, um sich hinzulegen. Für den Mut von Neuem anzufangen mit fast ohne Besitz, aber mit Familie im Gepäck und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, bin ich meiner Oma sehr dankbar.