"Gerade unsere Gesellschaft konzentriert sich auf Friede, Freude, Eierkuchen. Trauer und Tod gehören einfach überhaupt nicht dazu."
Die Entscheidung über den eigenen Tod
Als er am Abend wiederkam, war das Wohnzimmer dunkel, nur im Flur brannte Licht. Normalerweise saß sie um diese Uhrzeit auf dem Sofa und er würde ihr jetzt Abendessen kochen. Doch an diesem Tag war es anders. Mein Papa schaute ins Schlafzimmer und erschrak. Seine Mutter lag auf dem Bauch, den Kopf seitlich gelegt. „Mutti, wie geht’s dir?“, fragte er, als er näher an ihr Bett ging. „Oh, überhaupt nicht gut. Ach, weißt du Thomas, ich möchte einfach nur noch gehen. Jetzt wäre eigentlich die Zeit, zu gehen“, erwiderte sie mit schwacher Stimme. Und er verstand, was sie meinte. So ging es schon seit einigen Wochen. Sie konnte sich gerade so zur Toilette bewegen und wieder zurück ins Bett. Mehrere Besuche beim Hausarzt waren erfolglos. Es war noch keine Ursache gefunden, kein Ziel in Sicht, kein Medikament, das helfen könnte. Nur der Wunsch, dass das Leiden aufhört, der Wunsch zu sterben.
Wer in Deutschland selbstbestimmt sterben möchte, kann seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar letzten Jahres die Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen. Das Gericht verkündete, dass das Recht auf Leben auch das „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ beinhalte. Der freie Wille bis in den Tod. Somit wurde der Paragraph 217 des Strafgesetzbuches für nichtig erklärt. Dort wurde 2015 festgelegt, dass die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung verboten ist. Die Regierung wollte mit diesem Gesetz gegen kommerzielle Angebote vorgehen, wie dem Verein Sterbehilfe des ehemaligen CDU-Politikers Roger Kusch, verunsicherte so aber auch Ärzt*innen und Mediziner*innen. Vor der Einführung des Paragraphen 217 war die Beihilfe zur Selbsttötung weder verboten noch erlaubt. Nun aber soll sie legal sein.
„Früher hat sie gesagt: Ach, wenn ich keine Lust mehr habe, dann setz ich mir einfach eine Plastiktüte auf den Kopf!“, sagte meine Tante Katrin und wir beide mussten lachen. Ja, meine Oma Rosi ist schon immer sehr humorvoll mit den Themen sterben und Tod umgegangen. Nicht, dass die Plastiktüte je eine Option gewesen wäre, aber man hat immer wieder rausgehört: Sie möchte gesund sterben oder selbstbestimmt gehen. Momentan ist meine Oma in einem Seniorenhaus in Kurzzeitpflege. Als ich sie frage, ob sie sich schon lange mit dem Thema Sterbehilfe auseinandergesetzt hat, meinte sie: „Nein, muss ich ehrlich sagen. Aber jetzt, nachdem ich so ne Keule bekommen habe, da denke ich, ich möchte nicht leiden.“ Wer möchte auch schon leiden? In Deutschland gibt es für solche Fälle die Palliativmedizin. Sie behandelt Patient*innen, die eine nicht heilbare oder stark fortgeschrittene Krankheit haben und deren Lebenserwartung begrenzt ist. Das Ziel ist, die Lebensqualität durch medikamentöse Behandlung und psychologische Betreuung, zu verbessern. Was ist aber, wenn das nicht meiner Vorstellung vom Leben entspricht und ich trotz medizinischer Alternativen selber entscheiden möchte, wann ich sterbe?
„Ich halte sehr viel von Sterbehilfe. Ich habe mit deinem Papa darüber gesprochen und wenn ich leiden müsste, dann möchte ich das in Anspruch nehmen“, erzählt mir meine Oma weiter. Ein lebensfroher Mensch, der dir herzlich die Hand drückt, heimlich zwanzig Euro zusteckt, für den Familie alles bedeutet, der auch mit 80 Jahren noch Fahrradtouren unternimmt und der dir zehnmal sagt, wie gut das Essen schmeckt. Und ein Mensch, mit dem ich schon immer über alles reden konnte. Bei unserem Gespräch rollt mir die ein oder andere Träne über die Wange.
Die aktive Sterbehilfe ist in Deutschland immer noch nicht erlaubt. Ärzt*innen und Sterbehilfe-Vereine können Sterbewilligen zwar legal ein tödliches Mittel zur Verfügung stellen, einnehmen müssen sie es allerdings selbst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Oma vielleicht bald sterben könnte. Und doch ist ihr Wunsch nachvollziehbar: Sie möchte nicht leiden und wenn sie es nicht mehr aushält, möchte sie sterben. „Warum soll ich jahrelang krank dahinsiechen? Das will ich nicht. Verstehst du?“ Ja, eigentlich verstehe ich es. Und trotzdem ist es schwer, mit dem Tod von geliebten Menschen umzugehen. Es ist wie eine Uni-Abgabe, die ich bis zum letzten Moment hinauszögere, mit der ich mich aber irgendwann befassen muss. Haben wir verlernt mit dem Tod umzugehen? „Da bin ich mir sogar ziemlich sicher. Gerade unsere Gesellschaft konzentriert sich auf Friede, Freude, Eierkuchen. Trauer und Tod gehören einfach überhaupt nicht dazu“, meinte mein Papa, als ich mit ihm über das Thema spreche. „Ich verdränge das, gebe ich ganz offen zu. Und ich bin froh, wenn ich nicht damit konfrontiert werde.“
Auch ich habe das Thema oft verdrängt. Vergangene Weihnachten traf es mich allerdings schneller, als ich das letzte Stückchen Semmelknödel herunterschlucken konnte. Eine Patientenverfügung wurde auf den Tisch geworfen und mir blieb im wahrsten Sinne des Wortes der Kloß im Hals stecken. Das Dokument war für meine Oma. In einer Patientenverfügung können Personen ihren Willen festhalten, für den Fall, dass sie ihn zu einem späteren Zeitpunkt gegenüber Ärzt*innen und Pflegekräften nicht mehr äußern können. Ein Testament für die Lebenden. Meine Oma hat verfügt, dass mein Papa als Bevollmächtigter einwilligen darf, lebensverlängernde Maßnahmen zu beenden und zu unterlassen. Tritt dieser Fall ein, spricht man von passiver Sterbehilfe.
"Ich hab doch ein schönes Leben gehabt und war gesund bis ich 80 war! Es wäre für mich völlig in Ordnung jetzt zu gehen."
Es ging meiner Oma zu diesem Zeitpunkt also schlechter als erwartet. In der Zeit von Weihnachten bis Silvester haben sich meine Tante Katrin und mein Onkel Michael um sie gekümmert und für zwei Wochen bei ihr gewohnt. Übelkeit und Schwindelgefühl waren ständige Begleiter meiner Oma. Sie hatte Appetit auf Kaffee, zwei Schlucke später musste sie ihn wieder erbrechen. Die beiden wollten sie motivieren, bei schönem Wetter an die frische Luft zu gehen, damit sie auf andere Gedanken kommt. „Die Mundwinkel gingen so nach unten“, erzählte mir Katrin und zeigte mit ihren Fingern vom Mund abwärts. Später hat es meiner Oma draußen doch ganz gut gefallen. Am nächsten Tag ging das Spiel von vorne los. „Das war total mühsam, wir wussten ja nicht was sie hat“, erinnert sich Katrin. Sie habe verdorbene Sachen gegessen, war die Diagnose des Hausarztes. Es wurde aber einfach nicht besser. „Ach Katrin, ich hab doch ein schönes Leben gehabt und war gesund bis ich 80 war! Es wäre für mich völlig in Ordnung jetzt zu gehen“, meinte meine Oma immer wieder. Zu diesem Zeitpunkt hat sie allerdings noch nicht von Sterbehilfe gesprochen.
Nach den Feiertagen mussten meine Tante und mein Onkel wieder zurück nach Freiburg und ich nach Stuttgart. Mein Papa kümmerte sich von da an um meine Oma und besuchte sie zweimal täglich. Er kochte ihr Essen, fuhr sie zum Arzt und verbrachte Zeit mit ihr. Bis zu dem Tag, an dem die Schmerzen unerträglich wurden. Mein Papa fand meine Oma an diesem Tag in ihrem Bett, auf dem Bauch liegend, den Kopf leicht seitlich. „Ach, weißt du Thomas, ich möchte einfach nur noch gehen“, flüsterte meine Oma. Sie hatte sich immer geweigert ins Krankenhaus zu gehen, aber an diesem Abend änderte sie ihre Meinung: „Thomas, hol bitte den Notdienst.“ Mein Vater schluckte. Er rief die 112 und die Nachbarin von unten. Sie ist in der Altenpflege tätig und wusste sofort, was alles in eine Notfalltasche fürs Krankenhaus gepackt werden muss. So schnell konnten die beiden gar nicht alle Sachen zusammensuchen, da waren die Sanitäter schon da. Die zwei jungen, kräftigen Männer nahmen meine Oma mit zum Krankenwagen, weiter durfte mein Papa nicht, aufgrund der strengen Hygieneauflagen durch Corona. Endlich hatte sie die medizinische Hilfe, die sie brauchte, dachte er sich. Die Frage, die ich mir stellte: die medizinische Hilfe, um zu leben oder zu sterben?
"Ich habe eine ungeheure Lebensfreude und noch viele Vorstellungen, was ich machen möchte! Ich zieh das durch!“
Eine Woche später die Diagnose: ein doppelter Hirntumor. Zwei Lymphome haben sich im Kopf meiner Oma eingenistet und die Übelkeit, den Schwindel und die Schmerzen verursacht. Trotz ihrer 81 Jahre empfehlen die Ärzt*innen eine Chemotherapie, da diese Tumor-Art sehr gut erforscht sei und die Behandlung eine Verbesserung der Lebensqualität bedeute. Würde man den Tumor unbehandelt lassen, könne das zu motorischen Ausfällen führen. Meine Oma hat ihre Diagnose sofort akzeptiert. Sie sieht es als Glück im Unglück. „Ich seh das positiv“, meinte sie munter, „Mir wird hier sehr geholfen und wenn ich Glück habe, lebe ich noch vier Jahre. Ich habe eine ungeheure Lebensfreude und noch viele Vorstellungen, was ich machen möchte! Ich zieh das durch!“
Vor der Diagnose sah das allerdings noch anders aus. Mein Papa hat die Worte meiner Oma ernst genommen und sich mit Katrin über Sterbehilfe in Deutschland erkundigt. „Ich bin mir sicher, dass es in dem Moment eine enorme Erleichterung für sie war“, erinnert er sich an ihre Reaktion, als er ihr von der Möglichkeit der Sterbehilfe in Deutschland erzählt hat. Jetzt hat es sich aber ins komplette Gegenteil gewandelt. Die Lebensfreude meiner Oma und ihr Wille zu leben, sind zurückgekehrt. Das kann auf der einen Seite daran liegen, dass sie nun Gewissheit und eine konkrete Behandlung hat. Auf der anderen Seite kann allein das Wissen, dass Sterbehilfe eine Option ist, schon ausreichen. „Es gibt mir Sicherheit, weil ich nicht lange leiden möchte“, stimmt meine Oma zu, als sie über ihre Möglichkeit Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen spricht.
Bei der Klage gegen Paragraph 217 des Strafgesetzbuchs haben Ärzt*innen gefordert, dass sie offen in eine Beratung mit ihren Patient*innen gehen, ihnen alle Möglichkeiten aufzeigen und gegebenenfalls auch den Weg der Sterbehilfe begleiten können. Auch bei einer repräsentativen Umfrage im Februar 2020 von Ifratest Dimap gaben 81 Prozent der Deutschen an, dass sie die Beihilfe zum Suizid befürworten. Kritiker*innen äußern Bedenken, dass es nun einen Anstieg bei Sterbewilligen geben könnte und Vereine wie Verein Sterbehilfe dies kommerziell ausnutzen könnten. Petra Sitte von der Partei Die Linke hat mit einer Abgeordneten-Gruppe einen Gesetzesentwurf eingereicht und betont in einem Interview, dass es vor 2015 und vor dem Paragraphen 217 auch keine exzessiven Sterbehilfeprozesse gab und wir jetzt die Möglichkeit haben, das Ganze mit einem Gesetz abzusichern. Denn bis jetzt gibt es noch keins. Der Entwurf der Abgeordneten-Gruppe sieht Beratungsstellen vor, die den Betroffenen alle Möglichkeiten aufzeigen. Außerdem wird eine Wartefrist zwischen der Beratung und dem Suizid gefordert, ähnlich wie bei Schwangerschaftsabbrüchen.
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Mit der Legalisierung der Sterbehilfe in Deutschland wirkt man auch den „Sterbehilfe-Touristen“, die teilweise extra ins Ausland fahren, entgegen. In den Beneluxstaaten sind alle Arten der Sterbehilfe straffrei, aber dafür mit strengen Gesetzen geregelt. Der schweizer Verein Dignitas gibt an, dass im Jahr 2019 von 256 Sterbetouristen die meisten aus Deutschland kamen. In der Schweiz ist die aktive Sterbehilfe, so wie in Deutschland, verboten und nur die Beihilfe zum Suizid ist erlaubt. Für meine Oma wäre es nie infrage gekommen, dass sie für Sterbehilfe ins Ausland fährt, da es unter anderem auch eine Frage des Geldes ist. Auch der Verein Sterbehilfe in Deutschland verlangt eine Aufnahmegebühr von 2.000 Euro.
"Es ist ja so, Selina, der Tod gehört zum Leben dazu. Das ist etwas ganz Realistisches für mich!"
Meiner Oma hat die Erkenntnis, dass ihr die Sterbehilfe in Zukunft als Option zur Verfügung steht, Sicherheit und vielleicht auch neuen Lebenswillen gegeben. Das Bundesverfassungsgericht hat den Weg geebnet und den Menschen in Deutschland das Recht auf selbstbestimmtes Sterben zugesprochen. Was es jetzt noch braucht, ist ein Gesetz, das vor Missbrauch schützt, aber Betroffene in ihrer Entscheidung unterstützt. Während ich versuche die Tränen zurückzuhalten erklärt mir meine Oma: „Es ist ja so, Selina, der Tod gehört zum Leben dazu. Das ist etwas ganz Realistisches für mich!“