„Ich habe viel geweint und meinen Vater vermisst.“
Wenn zwei sich streiten, leidet die Dritte
Ellens Eltern ließen sich scheiden als sie vier Jahre alt war. Zwischen einer voll berufstätigen Mutter und einem Wochenend-Papa war sie oft auf sich allein gestellt. „Es war schwierig in der Kindheit“, erinnert sie sich. Damit ist Ellen Pfeiffer kein Einzelfall: Im Jahr 2022 verzeichnet das Statistische Bundesamt Deutschland mehr als 137 Tausend Ehescheidungen, aus denen etwa 70 Tausend Scheidungskinder hervorgehen. Eine Trennung ist eine besondere Stresssituation für Kinder und Jugendliche, da sich ihre Lebenssituation verändert. Ohne angemessene Unterstützung kann sich das auf die psychische Gesundheit auswirken. Ellen ging aus diesem Grund mit zehn Jahren in Therapie.
Familienberatungsstellen sind ausgelastet
Eva Friedrichs ist Diplom-Sozialpädagogin und systemische Familientherapeutin. Sie arbeitet seit rund vier Jahren als Erziehungsberaterin in der Familien- und Jugendberatungsstelle in Waiblingen. Inzwischen hat das Thema „Hilfe bei Trennung und Scheidung“ den früheren Schwerpunkt „Unsicherheit in der Erziehung“ abgelöst: Im vergangenen Sommer sei die Beratungsnachfrage für Scheidungskinder „anhaltend explodiert“. Ob die Corona-Pandemie oder Krisen wie der Krieg in der Ukraine die hohe Nachfrage beeinflussen, kann die Beraterin nicht einschätzen. Das Ergebnis ist jedoch eindeutig: Kinder und Jugendliche suchen den Kontakt zu Hilfseinrichtungen. „Wir sind wirklich ausgelastet“, berichtet Friedrichs.
In Baden-Württemberg gibt es 43 Jugendämter, die ähnliche Hilfsangebote stellen. An die Beratungsstelle in Waiblingen können sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 27 Jahre wenden, wenn sie Unterstützung in schwierigen Lebensphasen brauchen. „Wir werden oft als Zwischenstation zu Therapeuten gesehen, um lange Wartezeiten zu überbrücken“, sagt Friedrichs. Viele Scheidungskinder, so die Beraterin, würden von ihren Kinderärzt*innen oder Lehrkräften an die Beratungsstelle verwiesen. Gründe dafür können Konzentrationsschwächen oder auffälliges Verhalten sein. Ellen wuchs in Waiblingen auf und findet es gut, dass es diese Möglichkeiten gibt. Sie selbst nutze allerdings keine davon: „Mir war es gar nicht so bewusst, was es da gibt“, sagt sie.
Wöchentliche Sprechstunde ohne Anmeldung
Familien-, Eltern- und Einzelberatungen mit Kindern und Jugendlichen stehen auf dem Tagesplan von Eva Friedrichs. Sie stellt fest, dass die aktive Suche nach Hilfe oft mit Scham verbunden ist: „Egal, ob älter oder jünger, alle müssen sich erst überwinden, sich an uns zu wenden“. Daher ist es für die Beratungsstellen wichtig, möglichst niederschwellig Unterstützung anzubieten. So gibt es beispielsweise jeden Donnerstag zusätzlich eine offene Sprechstunde für Kinder und Jugendliche. Hier können sie unangemeldet – allein oder mit Freunden – kommen und einen ersten Kontakt knüpfen.
Neben den klassischen Beratungsterminen gibt es speziell für Eltern ein seminarartiges Programm. Der Kurs „Trennung meistern, Kinder stärken“ werde von den Eltern gut angenommen, sagt Friedrichs. Darin werden die Eltern für den richtigen Umgang mit ihren Kindern sensibilisiert. Sie sollen verstehen, wie sich die Scheidung auf die Kinder auswirkt. Die Erziehungsberaterin erklärt, dass während der Trennung die Themen ihrer Kinder oft vernachlässigt werden. Das Ziel: „Eltern bekommen ein besseres Gespür für ihre Kinder und beziehen sie bei Bedarf in die Beratung mit ein“.
Kindern ist oft nicht bewusst, was ihnen fehlt
Nach einer Scheidung einigen sich in erster Linie die Erziehungsberechtigten darüber, wo das Kind leben und wie oft es den anderen Elternteil sehen soll. In den meisten Fällen lebt das Kind bei der Mutter und besucht regelmäßig den Vater – so war es auch bei Ellen. Der Kontakt zu ihrem Vater war damals besonders emotional: „Ich habe viel geweint und meinen Vater vermisst“, erinnert sie sich. Außerdem konnte sie im jungen Alter von etwa zehn Jahren nicht einordnen, welche unerfüllten Bedürfnisse sich dahinter verbargen. Darum kümmerte sich ihre Mutter um einen Therapieplatz für sie.
Ähnliche Situationen beobachtet Eva Friedrichs in der Beratung: „Viele haben überhaupt keinen Zugang zu sich und ihren Gefühlen“. Genau hier setzen die Mitarbeitenden der Kinder- und Jugendberatungsstellen an. Sie unterstützen die Scheidungskinder bei Fragen wie: „Was fühle ich und welche Bedürfnisse stehen dahinter? Was brauche ich?“. Bevor die akute Situation verändert werden kann, muss das Kind verstehen, welche unerfüllten Bedürfnisse hinter den eigenen Gefühlen stecken, so Friedrichs.
Sich mit Selbstliebe helfen
„In der Beratung konzentrieren wir uns auch auf das, was gut läuft“, erzählt Friedrichs. „Welche Ressourcen habe ich? Welche Menschen tun mir gut?“ Es ginge darum, das Positive im Bewusstsein des Scheidungskindes zu verankern. Um eine Basis zu festigen, gibt sie den Kindern und Jugendlichen praktische Tipps: „Mit einer guten Basis kann man sich dem Schwierigen wieder stellen“. Zum Beispiel sollen sie sich die Frage stellen: „Was würde ich jetzt meiner engsten Freundin raten und wie würde ich mit ihr umgehen?“ Oft sei es schwieriger, bei sich selbst ein Problem zu erkennen. Für die Beraterin ist es wichtig, die eigene Situation von außen zu betrachten, um Abstand zu gewinnen und einen klaren Kopf zu bekommen: „Sie müssen aus dem Überlebensmodus herauskommen, um wieder erkennen zu können, welche Art von Hilfe sie brauchen“. Friedrichs beschreibt drei Tipps zur akuten Stressbewältigung.
Was es braucht? Gewaltfreie Kommunikation
Für Eva Friedrichs ist Gewaltfreie Kommunikation ein erster Schritt zur Konfliktlösung. Das sollte ihrer Meinung nach bereits im Kindergarten vermittelt und in der Schule vertieft werden. Die Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg ist ein Handlungskonzept, das auf Mitgefühl und dem inneren Wunsch, anderen etwas Gutes zu tun, basiert. Dabei werden die eigenen Bedürfnisse als ebenso wichtig angesehen wie die des Gegenübers. Jede Form von Gewalt ist nach dieser Theorie Ausdruck unerfüllter Bedürfnisse und kann durch wertschätzende Kommunikation verhindert werden.
Die Sozialpädagogin erklärt: In Streitsituationen will meist eine Partei ihre eigenen Interessen durchsetzen. Dabei ginge es im Umgang miteinander um Einfühlungsvermögen, Verständnis und Kompromisse. Wenn man die eigenen Bedürfnisse und die des Gegenübers versteht, können beide Parteien besser aufeinander eingehen: „Es hilft allen, wenn die Perspektive erweitert wird und sie sehen, dass es mehr gibt als das Problem“.