„Mittelkinder sind Vermittler.“
Mehr als nur das Sandwichkind
Während meine ältere Schwester die Puppe mit dem langen, glänzenden, blonden Haar in die Hände nahm, blieb mir nur die mit dem verfilzten Wischmopp auf dem Kopf. So will es das Gesetz. Das Geschwistergesetz. Alle jüngeren Geschwisterkinder werden dieses früher oder später zu spüren bekommen. Auch mein jüngerer Bruder, den ich irgendwann als ältere Schwester in die untergeordnete Rolle einwies und zu dem berühmten „Danebensitzen und Zuschauen“ verdonnern konnte. Alles Privilegien der Älteren? Nein, denn als jüngeres Geschwisterkind erlebt man ebenfalls ein paar Vorzüge: Die abendliche Fernsehgrenze galt es bei uns zuhause ohne Widerrede einzuhalten. Musste sich meine ältere Schwester strikt an diese halten? Auf jeden Fall. Funktionierte sie bei uns jüngeren Geschwistern? Auf keinen Fall.
Beides erlebt – mal jünger, mal älter. Zwischendrin, der Zwischenpuffer, aka das von J. Cole besungene Kind in der Mitte.
Verlierer der Geburtenreihenfolge
Googeln sollte man den Begriff „Mittelkind“ auf jeden Fall dann, wenn man Sehnsucht nach haufenweise Problemdiagnosen verspürt. „Psychische Probleme“, „aggressiv“, „Problemkind“, „Mittelkind-Syndrom“ – sogar ein eigenes Syndrom diagnostizieren Medien und Psychologen. Sie trichtern uns ein: Wir sind die Verlierer der Geburtenreihenfolge. Noch schlimmer? Geht anscheinend immer: Mittelkind und männlich. Männliche Mittelkinder haben eine 20 bis 40 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit in der Schule auffällig und irgendwann straffällig zu werden. Sie „landen eher im Gefängnis, werden von der Schule suspendiert oder rutschen in die Jugendkriminalität ab“, sagt Joseph Doyle, Forschungsleiter der Untersuchung des Massachussetts Institute of Technology (MIT). Also, wenn der nächste Straftäter ins Gericht schreitet, so gebet ihm eine verminderte Strafe. Er ist doch schließlich Mittelkind.
Der Hybrid unter den Geschwistern
Boulevard-Zeitschriften bedienen sich gerne an Klischees und weisen anhand der Geschwisterposition Charaktereigenschaften zu, ähnlich der Astrologie. Der Glaube an Nesthäkchen, Erstgeborenes und Sandwichkind? Der Wiener Psychotherapeut und Begründer der Individualpsychologie Alfred Adler manifestierte diese Begriffe schon in den 1920er Jahren, unter anderem in seinem Werk „Menschenkenntnis“. Demnach seien erstgeborene Kinder die führenden und ambitionierten, die mittleren besonders sozial und die jüngsten rebellisch. Die Geschwisterpositionen sind natürlich komplex, verwebt mit unterschiedlichen Einflüssen und Bedingungen. Laut Adler sei die Situation der mittleren Kinder aber nicht grundsätzlich negativ zu bewerten.
Was schon im Wort des/der Mittleren drinsteckt ist Programm: Das Vermitteln. „Mittelkinder sind Vermittler“, so Wolfgang Krüger, Psychotherapeut und Buchautor aus Berlin. Tatsächlich gab es öfter einmal Zankereien zwischen meiner älteren Schwester und meinem jüngeren Bruder. Da fungierte ich als Schlichter, als Vermittler. „Man ist das Sinnbild der Waage“, so die Erzieherin Monika Hawran, die in ihrem täglichen Umgang mit Kindern die Wichtigkeit erkennt, auf individuelle Charakterzüge einzugehen. „Wir dürfen mal hoch, aber auch mal tief. Wir haben die Möglichkeit, uns mal klein zu zeigen aber auch mal groß.“ Das Gleichgewicht zu halten, die Balance zu finden, ist wichtig, um nicht allzu sehr ins Schwanken zu kommen. Aber: Man darf eben auch beides. Das ist die Chance, die mittlere Kinder besitzen. Wir verfügen über das Einfühlungsvermögen beide Positionen zu verstehen und uns in beide hineinzubegeben – die Hybride unter den Geschwistern.
Anders sein und anders wahrnehmen
Im Grunde will jedes Kind gesehen werden, jedes Kind will anders gesehen werden. Eltern die stolz behaupten, sie erziehen alle Kinder gleich, begehen hier schon den Fehler. Man kann gar nicht gleich erziehen. Geschwister sind nicht gleich. Unterscheidung ist ein wichtiger Aufruf, eine wichtige Bitte anders gesehen zu werden. Wenn ich gezwungen werde das selbe zu tragen wie meine Schwester, werde ich mich niemals eigens entfalten können.
Das Positive
Von wegen Problemkind – stereotypische Bilder und Essensvergleiche haben ausgedient. So wie jede Geschwisterposition muss auch das Mittelkind seine Position annehmen und das geschieht im Optimalfall mit einer begleitenden Hand der Eltern. Nur durch ihr Achtgeben, kann das Kind Wurzeln schlagen und einen Anker setzen, der ihm Stabilität für das Leben gibt. Gebt euren Kindern die Möglichkeit sich zu entfalten. Fördert sie individuell. Meine Mutter pflegte immer zu sagen: „Wer seinen Kindern einredet wie sie zu sein haben, hat sie schon verloren.“
Egal ob Erst-, Letzt-, Zweit-, Drittgeborenes oder Einzelkind – „Man kann keine dieser Positionen verallgemeinern“, so Monika Hawran. Ich habe meine Position als mittleres Kind nie negativ gesehen, denn ich bekam das Geschenk beides zu erleben. Eine ältere Schwester, die in gewisser Weise Vorbild für mich war und einen kleinen Bruder, dem ich half und auf den ich aufpasste. Wertgeschätzt von beiden Seiten – nehme ich mal an. Ich mag diese Position, so zwischendrin.
Sandwichkind war einmal, ab jetzt bitte nur noch die sympathische Mitte.