Wenn Leid zur Obsession wird
Das Internet ist ein Schauplatz der Selbstdarstellung. Wir alle wollen das Beste aus uns herausholen, wodurch Online-Bewegungen wie #positivevibes #selfcare oder #loveyourself entstanden sind. Doch nicht immer geht es uns gut.
Lange Zeit war das bloße Erwähnen von Depression, Angststörung oder Panikattacken ein gesellschaftliches Tabu-Thema. „Niemand“ schien darunter zu leiden und die, die es taten, wurden ausgegrenzt. Dank Social Media und Menschen, die sich trauten darüber zu sprechen, konnten hartnäckige Vorurteile nach und nach beseitigt werden. Ein netter Nebeneffekt: Betroffene waren nun nicht mehr auf sich gestellt. Schließlich ist geteiltes Leid nur halbes Leid. Nur birgt die Zurschaustellung von Verletzlichkeit im Internet nicht nur Positives. Denn letzten Endes zielt man mit Selbstdarstellung auf Social Media auf eins ab: Aufmerksamkeit. Auch wenn das bedeutet mentales Leid zu glorifizieren.
Trauer als neuer Aesthetic
Die Generation Z schließt die Menschengruppe ein, die zwischen 1999 und 2010 geboren wurde. Die Zeitspanne, in der das Internet seinen großen Aufstieg hatte. Kein Wunder, dass wir als „digital natives“ unsere Gefühle besonders auf Social Media kundtun.
Grundsätzlich ist es nichts Schlechtes sein Leben mit der Öffentlichkeit zu teilen. Im Hinblick auf mentale Gesundheit, kann das Teilen der eigenen Erfahrungen zu einem positiven Diskurs beitragen.
Nichtsdestotrotz macht sich ein Trend auf den Plattformen bemerkbar, die weit in den 2000ern zurückliegen. Bereits auf der Social-Media-Plattform Tumblr wurden Medieninhalte zu Themen wie Depression oder Selbstverletzung behandelt. Mit dem bitteren Beigeschmack der Darstellung: Es wurde romantisiert. Es galt als schön, die Trauer als Kunst zu verpacken.
Heutzutage schwappt die Mehrheit der Tumblr-Community auf die Social-Media-Plattform TikTok. Unter Hashtags wie #sadtok oder #depression werden Kurzvideos von Nutzern gepostet, die ihre mentalen Krankheiten mit der breiten Masse teilen.
Auch, wenn es die meisten Creator gut meinen, darf man nicht vergessen, dass Social Media ein Ort der Selbstinszenierung ist. Neben Themen wie Depressionen schmücken sich immer mehr Menschen mit allerlei mentalen Störungen wie ADHS oder Autismus. Durch vereinfachte Selbstdiagnosen kann man an einer Hand abzählen unter welchen mentalen Problemen man „leidet“. Erschreckend einfach. Viele gehen so weit, dass sie mentale Störungen vortäuschen, um Klicks und Likes abzustauben. Die weitreichenden Folgen scheinen vielen egal zu sein.
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Mentale Krankheiten sind keine Trophäen
Die erhöhte Selbstdarstellung von mentalen Krankheiten im Netz bringt den Eindruck auf, dass diese wie eine Modeerscheinung verfliegen wird. Ein Trend bei dem jeder mitmachen kann. Menschen, die sich weinend vor die Kamera setzen. Grau-weiße Filter und traurige Musik. Es wird einem buchstäblich vorgeschrieben, wie Depression oder andere Krankheiten auszusehen haben. Ein idealisiertes Narrativ wird erschaffen.
Die Konsequenzen resultieren darin, dass Personen mit klinisch-diagnostizierten mentalen Problemen weniger nach Hilfe fragen werden. Sie werden weniger ernst genommen, schließlich wären sie nicht die einzigen mit der Diagnose.
Da besonders junge Menschen in ihrer Entwicklung auf der Suche nach Orientierung sind, kann die Glorifizierung mentaler Probleme eine weitere Schwierigkeit darstellen. Durch Selbsttests und Laien auf Social Media Plattformen, werden komplexe Krankheiten auf vereinfachte Weise dargestellt. So wird Nervosität als Angststörung diagnostiziert, Depression auf Traurigkeit reduziert. Es kann in solche Selbstdiagnosen viel überinterpretiert werden.
So weit, dass die Gefahr von wirklichem Selbsthass besteht. Durch gegenseitige Bestätigung in den jeweiligen Communities, können Essstörungen verherrlicht, Selbstmordgedanken geteilt und Tipps zur Selbstverletzung weitergegeben werden. Dieses Verhalten wirkt ansteckend und Extreme wie Suizid können wie eine Lösung erscheinen.
Normalisierung? Ja, aber bitte ohne den Heiligenschein!
„Es ist okay, nicht okay zu sein“. Das ist die Botschaft, die die Bewegung rund um mentale Krankheiten auf Social Media rüberbringen will. Der Widerstand, gegen den allgegenwärtigen „positiven Perfektionismus“ auf sozialen Netzwerken entgegenzuwirken, ist im Kern ein guter Ansatz. Wir reden offener über unsere mentale Gesundheit und sicherlich hat der Diskurs vielen Menschen das Gefühl vermittelt, nicht alleine zu sein.
Mentale Gesundheit ist aber nach wie vor kein Trend oder etwas Beschönigendes. Man muss sich im Hinterkopf behalten, dass auf Social Media das gezeigt wird, was gezeigt werden möchte. Ein Gang zum Facharzt sollte einer TikTok-Selbstdiagnose in jedem Fall bevorzugt werden. Ein guter Schritt ist es allemal, mentale Krankheiten zu thematisieren, nur sollte das wie die entscheidene Rolle spielen. Denn bei dieser Bewegung muss hinterfragt werden, ob sie durch ihre Offenheit hilft oder einen nicht doch weiter in die Trauerspirale befördert.
Deine Meinung interessiert uns
Ja, ich denke viele verharmlosen mentale Krankheiten für Aufmerksamkeit.
Nein, ich denke der Austausch sorgt für mehr Sensibilisierung.