„Auf Sizilien lässt sich so leicht das perfekte Mädchen finden. Alles, was von der Norm abweicht, fällt auf.“
Weder Mann noch Frau
Sofia trägt ihre Haare ganz kurz. Ihr schwarzes Sweatshirt fällt locker an ihrem Körper herab, ihre braune Lederjacke bedeckt ihre schmalen Schultern und ihre Augen strahlen, wenn sie lacht. Sofia ist 21 Jahre alt und kommt aus Sizilien. Sie ist anders als viele Frauen in ihrem Alter. Sie hat bereits viel erlebt: schöne Dinge, aber auch viele Gemeinheiten. Sie musste böse Blicke ertragen und gemeine Kommentare wegstecken. „Bist du ein Junge oder ein Mädchen?“ Eine Frage, die sie bereits oft beantworten musste. Sofia lebt und kleidet sich androgyn und vereint sowohl männliche als auch weibliche Merkmale in ihrem Kleidungsstil, ohne sich auf ein spezifisches Geschlecht festzulegen.
Was ist Androgynie überhaupt?
Der Begriff „Androgynie“ stammt aus dem Altgriechischen und leitet sich von den Wörtern „andros“, dem Mann und „gyne“, der Frau ab. Androgyne Menschen tragen sowohl männliche als auch weibliche Merkmale in sich. Die androgyne Community stellt sich in der Regel bewusst als nicht-geschlechtlich dar, um sich keiner der von der Gesellschaft vorgeschriebenen Geschlechterrolle zuordnen zu müssen.
Männer und Frauen haben einen unterschiedlichen Körperbau, der beide Geschlechter voneinander unterscheidet. Die darauf aufbauenden Geschlechterrollen sind eingrenzend und wecken die Erwartung, dass diese auch in ihr Selbstbild aufgenommen werden müssen: Frauen sind feminin, Männer maskulin. Sich unabhängig von der eigenen Geschlechterrolle darzustellen, ist ein Versuch sich diesen Stereotypen zu entziehen
Sofias persönliche Geschichte
Sofia merkte bereits früh, dass sie sich von den Kindern in ihrem Alter unterscheidet. Sie verliebt sich in Mädchen und nicht in Jungen, sie möchte keine Kleider anziehen und beschäftigt sich lieber mit Spielsachen, die eigentlich nicht für Mädchen bestimmt sind. Ihre Mutter versucht ihr beim Einkaufen Röcke und pinke Shirts aufzudrängen und hofft, dass ihr jungenhaftes Aussehen nur eine Phase ist. Sofia fühlt sich schlecht, weil sie nicht wie die anderen ist. Als sie älter wird, begreift sie, dass sie nicht in die Rolle passen muss, die für eine Frau vorgesehen ist. Sie kann sich selbst aussuchen, wer sie ist und wie sie sich anzieht.
Sie erklärt: „Ich ziehe mich androgyn an, weil ich mich so präsentieren kann, ohne mich einem Geschlecht zuordnen zu müssen. Die Vorstellung davon, was weiblich und männlich ist, ist tief in unseren Köpfen verankert.“ Für Sofia sei das ein soziales Konstrukt, das uns in gewisse Rollen zwänge. Diese würden unseren Geschmack, unsere Hobbies und unseren gesamten Lebensstil beeinflussen.
Androgynous-Community
Androgynie ist ein Phänomen, das nicht nur Sofia betrifft. Im Internet gibt es immer mehr Informationen dazu. Auch in den sozialen Netzwerken lassen sich Dutzende Gruppen finden, in denen sich androgyne Menschen austauschen und Stylingtipps weitergeben. Es gibt außerdem mittlerweile einige bekannte Blogger und Influencer, die sich selbst androgyn kleiden und mit dem Thema auseinandersetzen. Auch die amerikanische Schauspielerin Ruby Rose und das Model Cara Delevigne sind durch ihr androgynes Aussehen bekannter geworden. Sofia hat dadurch an Selbstvertrauen gewonnen, weil es Leute gibt, die ihr ähneln. Sie fühlt sich nicht mehr allein. „Als Kind hatte ich wirklich Probleme, weil ich niemanden kannte, der so war wie ich,“ erzählt Sofia. In Sizilien sei es besonders schwierig, da es nicht viele Menschen dort gebe, die von der Norm abweichen würden. Aber wenn doch, würde das direkt auffallen. Durch die sozialen Netzwerke habe sie die Möglichkeit bekommen, Leute zu treffen, die mit den gleichen Herausforderungen kämpfen. Dass sie sich nun selbstsicherer fühle, habe sie vor allem dem androgynen Model Rain Dove zu verdanken, dass sie vor einiger Zeit auf Instagram entdeckt hat. Sie habe Sofia mit ihrer positiven Art und Message angesteckt.
Zwei Geschlechtsrollenidentitäten
Ulla Bock, eine deutsche Soziologin, und die Professorin Dr. Dorothee Alfermann, die unter anderem Psychologie und Soziologie studiert hat, beschäftigen sich bereits seit über zehn Jahren mit dem Thema der Androgynie. Gemeinsam haben sie ein Buch mit dem Titel „Androgynie. Vielfalt der Möglichkeiten“ geschrieben.
„Androgynie lässt sich […] gleichzeitig als maskuline sowie feminine Geschlechtsrollenidentität bezeichnen“, schreiben Alfermann und Bock in der Einleitung zu ihrem Buch. Androgyne Menschen seien idealerweise in der Lage positive männliche als auch weibliche Charaktermerkmale, wie beispielsweise Stärke und Führungsqualitäten, aber auch Fürsorglichkeit und Hilfsbereitschaft in sich zu vereinen. Dabei werden negative Merkmale bewusst übergangen. Androgyne Personen können demnach selbstbestimmt lenken, wie sie positive Charaktereigenschaften einsetzen.
Laut Alfermann und Bock leben wir in einer modernen Gesellschaft, in der die Individualisierung ständig zunimmt. Trotzdem seien oft flexible Grenzüberschreitungen notwendig. Ein Mann habe in der Regel eine weibliche Seite an sich und eine Frau eine männliche. Diese Seiten können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Androgyne Menschen hätten täglich für sich selbst mit Grenzüberschreitungen zwischen den zwei Geschlechterrollen zu tun. In einer Gesellschaft, die ständig nach Wandel verlangt, seien sie also möglicherweise sogar im Vorteil. Durch das bewusste Leben dieser Gegensätze könne eine Vielfalt von möglichen Lebensformen entstehen, die sich auch flexibel an den dynamischen Wandel der Umwelt anpassen können.
Falls du mehr von Sofia sehen möchtest, findest du hier ihren Instagram-Account: Sofia Deodati