Vintage-Trend

Zurück zu alten Zeiten

Die Analog-Fotografie boomt auch bei Generationen, die in der digitalen Welt aufgewachsen sind.
22. Dez. 2020
Ohrensessel, Schallplatten und Analog-Kameras sind heute nicht mehr nur bei den Großeltern, sondern auch in vielen Student*innenzimmern zu finden. Eine Generation, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist, greift auf analog zurück. Was fasziniert uns an Vintage?

Hausarbeiten schreibe ich auf dem Laptop, während im Hintergrund „Glenn Miller´s History of Jazz“ auf dem Plattenspieler läuft. Mit dem Smartphone in der Hosentasche gehe ich die Abzüge meiner Analog-Kamera abholen. Die Zeiten, in denen die Bilder noch entwickelt werden mussten, habe ich aber noch nicht einmal miterlebt. 

Zwischen zwei Zeiten

Ich bin als Digital Native aufgewachsen. Mein erstes Smartphone habe ich mit 11 Jahren bekommen. Heute ist es mein täglicher Begleiter. Ein Alltag ohne Smartphone? Kaum mehr vorstellbar. In der App schaue ich, wann mein nächster Zug fährt. Während der Fahrt checke ich die neuesten Nachrichten. Auf dem Heimweg darf das klassische Bild vom abendlichen Sonnenuntergang natürlich auch nicht fehlen. Ist ja auch praktisch, seine Kamera immer in der Hosentasche dabei zu haben. Und trotzdem steht auf meinem Regal noch eine Analog-Kamera. Bis die erste Filmrolle entwickelt ist, ist die Sonne bereits zehn weitere Male untergegangen. Also wofür das Ganze?

Mit meiner Faszination für alte Dinge bin ich nicht allein - im Gegenteil. Telefone bekommen wieder Wählscheiben, Möbel runde Formen und gedeckte Farben. Neu aufgelegte Spielkonsolen gibt es wieder im Originallook. Damit erreichen die Hersteller nicht nur alte Nostalgiker*innen, sondern auch junge Leute. „Das ist Teil des Kalküls“, meint Trendforscher Sascha Friesike. „Auf der einen Seite soll die Nostalgie der älteren Generation wiedererweckt werden. Gleichzeitig hat die jüngere Generation dadurch die Möglichkeit, das Ganze auch mal zu erleben.“

Leonie und Paul haben ihren eigenen Vintage Online-Store "Still thrifting" eröffnet.
Basem ist Gründer vom "Analog:Kollektiv", einer Community für Analog-Fotografie.

Leonie und Paul haben ihren eigenen Vintage Online-Store gegründet. Zu kaufen gibt es hier bunte Strickpullunder, die man so nur in Omas Kleiderschrank findet. Sonnenbrillen, die man auch auf der Skipiste tragen könnte und neonfarbene Trainingshosen statt einfarbige Röhrenjeans. Das tragen Leonie und Paul auch in ihrer Freizeit. Auffallen? Vorprogrammiert. Eine Art Nebenwirkung des Individualismus in der Masse mit den weißen Sneakern. Das liegt nicht daran, dass wir alle gleich ticken. Es will doch eher jede*r behaupten, dass sie*er aus der Masse heraussticht. Warum haben wir trotzdem das Gefühl, dass heute alle gleich aussehen? Modetrends werden weltweit gesetzt. Die großen Modeketten erkennen die Trends und verkaufen sie in fast jeder Fußgängerzone. Nach einer Weile stehen dann in jedem Schuhschrank weiße Sneaker. Und ja, auch in meinem. Das trifft natürlich nicht auf jeden zu. Etwas Mut zum Auffallen würde uns aber trotzdem guttun. Vintage zu kaufen ist nur eine Möglichkeit dafür.

Der Tritt auf die Bremse

Basem will mit seiner Kamera um den Hals nicht auffallen. Ihm gibt die Analog-Fotografie Entschleunigung in einer super schnelllebigen Welt. Wir sind es heute gewohnt, dass alles sofort verfügbar ist. Pakete stehen am nächsten Tag vor der eigenen Haustür. Alte Freund*innen auf der Landkarte viele Meilen entfernt, im Netz nur ein Klick. Klingt ja eigentlich gar nicht schlecht. Der Druck, dass alles schnell gehen muss, überträgt sich aber auch auf uns. Termine müssen eingehalten werden, der Zug darf keine Minute zu spät sein und man sollte stets erreichbar sein. Keine große Überraschung, dass wir da auch mal wieder auf die Bremse drücken müssen. 

Gegentrend zur Digitalisierung?


Um das Wohlbefinden und die Produktivität der Arbeiter zu steigern, setzen auch Firmen im Silicon Valley auf Meditation und Achtsamkeit. Gleichzeit wird hier fast täglich ein neues Produkt entwickelt, das die Welt noch lauter, noch blinkender macht. Wenn du dir heute ein Smartphone kaufst, wird dir in zwei Monaten schon wieder gesagt, du wärst nicht auf dem neuesten technischen Stand. Gerade in Zeiten, in denen sich viel ändert, sehnen wir uns wieder nach Beständigkeit. Heute nennt sich der Wandel Digitalisierung. Doch schon in den 60ern hatten die Menschen wegen der Automatisierung Angst um ihre Arbeitsplätze. „Wir gehen immer davon aus, dass wir in turbulenten Zeiten leben“, so Sascha Friesike. Unabhängig vom Zeitalter nehme der Mensch immer an, dass die letzten 15 Jahre eine Zeit der Stabilität waren. Als Digital Natives sind wir also nicht die erste Generation, die etwas Beständigkeit in Altem sucht. Ganz unschuldig ist die Digitalisierung am Vintage-Trend aber nicht.

Auch wenn ich die Zeiten nicht miterlebt habe, geben mir alte Dinge ein Gefühl der Nostalgie. Nostalgie ist mehr als nur Erinnerung. Sie gibt mir eine Balance in Zeiten der Veränderung. Natürlich wird sich nicht alles ändern, auch in Zukunft wird die Vergangenheit immer gegenwärtig sein. Das muss nicht die Analog-Kamera oder der Plattenspieler sein. Selbst mit alten Freund*innen gemeinsam in Erinnerungen zu schwelgen, kann uns in unserem schnellen Alltag wieder etwas Stabilität geben.