„Sobald einer krank ist, ein krankes Kind hat, auf Fortbildung ist oder was auch immer, sind wir sofort unterbesetzt."
Vom Überfluss zum Mangel
90 Turnschuhe flitzen über den quietschenden Boden einer Turnhalle. 45 rennende Kinder, die es zu betreuen gilt und nur eine einzige Lehrerin, die zur Verfügung steht. Grund für die Situation: eine einzige Krankmeldung. Antje Hummel erinnert sich an eine Situation aus dem vorherigen Schuljahr zurück, die so immer häufiger vorkommt. Seit 16 Jahren ist sie Schulleiterin an der Grundschule Burgstetten im Rems-Murr-Kreis. Solche Situationen seien inzwischen so alltäglich, dass man sich da gar nicht mehr groß aufrege. Hummel sieht das Ganze eher praktisch: „dann habe ich sie wenigstens alle in einem Raum.“
Heute hingegen himmlischer Frieden: In der Mitte des Raumes sitzen elf Kinder mit ihrer Lehrerin in einem Stuhlkreis und erzählen nacheinander von ihrem Wochenende. Religionsunterricht. Geteilte Klassen ein seltener Genuss. Im Normalfall variiert die Klassengröße an der Grundschule Burgstetten zwischen 15 und 26 Schüler*innen.
Es gibt zu wenig Lehrer*innen
Seit Jahren ist die Nachfrage nach Lehrer*innen größer als das Angebot an Lehramtsabsolvent*innen. Der Lehrerverband spricht vom größten Lehrer*innenmangel seit 50 Jahren. Über 15.000 Lehrer*innen werden 2026 laut Kultusministerkonferenz (KMK) fehlen. Die Bertelsmann Stiftung prognostiziert sogar gut 26.000 fehlende Lehrkräfte, allein an deutschen Grundschulen. Auch Heinz Peter Meidinger, ehemaliger Präsident des deutschen Lehrerverbands, geht davon aus, dass die Zahlen in Wirklichkeit noch viel höher sind. Denn in vielen Bundesländern würden am Anfang des Schuljahres je nach Mangel Stunden gekürzt, somit sei der Bedarf nur auf dem Blatt gedeckt. Einer von vielen Gründen für den hohen Mangel ist der demographische Wandel. Seit mehreren Jahren werden die Lehrer*innen der geburtenstarken Jahrgänge, welche in den 70er-Jahren eingestellt wurden, pensioniert. Dieser Masse an Pensionierungen rücken allerdings nur wenige Neuanstellungen nach. Zudem steigt seit Jahren die Zahl der Schüler*innen in Deutschland. Im vergangenen Schuljahr 2022/2023 wurden so viele Kinder eingeschult wie seit 17 Jahren nicht mehr. Das statistische Bundesamt (Destatis) berechnete einen Anstieg von mehr als 5% zum Vorjahr, dabei handelt es sich um 40.000 Kinder. Für die Schulen bedeutet das mehr Schüler*innen, jedoch weniger Lehrer*innen, die sich um diese kümmern können.
In der Grundschule Burgstetten äußert sich das dadurch, dass die normale Belegschaft lediglich die Pflichtstunden abdecke. „Sobald einer krank ist, ein krankes Kind hat, auf Fortbildung ist oder was auch immer, sind wir sofort unterbesetzt“, so Hummel. Um dann trotzdem noch eine Betreuung zwischen halb neun und zwölf zu gewährleisten, werden beispielsweise Klassen zusammengelegt. Dann wird die Wand zwischen den Klassenzimmern aufgemacht und ein*e Lehrer*in ist für zwei Klassen zuständig. Nur wenige Wochen im Jahr seien alle da, sodass ein normales Arbeiten stattfinden kann.
Der Gegensatz: zu viele Lehrer*innen
Bereits in den 60er-Jahren prognostizierte die KMK einen Lehrer*innenmangel. In der Nachkriegszeit stieg sowohl die Geburtenrate als auch die Nachfrage nach qualifizierter Bildung. Daher wurde die Botschaft verbreitet, dass möglichst viele junge Menschen Lehrer*in werden sollen. Die Nachricht kam an: Mitte der 70er-Jahre gab es mehr als doppelt so viele Lehramtsabsolvent*innen. Trotz allem ging der Plan nicht auf. Denn fast zeitgleich wurde die Pille eingeführt, welche zu einer halbierten Geburtenrate führte. Dadurch zeichnete sich für die 80er-Jahre eine sinkende Schüler*innenzahl und somit ein Lehrer*innenüberschuss ab.
Dies bereitete besonders den Bewerber*innen Probleme. Eine von ihnen war damals auch Antje Hummel. „Schon am Anfang unseres Studiums hatte man uns gesagt: Wir wissen nicht, ob wir jemals einen Job für Sie haben werden“, erinnert sich Hummel an die Zeit zurück. Von 76 Leuten aus ihrem Abschlussjahrgang haben drei eine Stelle bekommen und fünf wurden auf die Warteliste geschrieben. Allen anderen habe man gesagt: „Seid fruchtbar und mehret euch, dann würdet ihr den nächsten Generationen den größten Gefallen tun.“ Während Hummel die Wörter ausspricht, bemerkt man noch immer ihre Verärgerung über diese Aussage. „Das fand ich von dem Schulrat damals unmöglich“, sagt sie kopfschüttelnd.
Erneuter Wechsel demographischer Rahmenbedingungen
Die damals ersehnten hohen Geburtenzahlen kamen dann Mitte der 2010er-Jahre, als es einen erneuten Wechsel der demographischen Rahmenbedingungen gab. 2013 prognostizierte die KMK noch einen Lehrer*innenüberschuss für die kommenden zwölf Jahre. Grundlage war damals die Erwartung, dass der Trend der sinkenden Geburtenzahlen weitergeht. Dies war jedoch nicht der Fall. Bereits 2012 gab es mehr Geburten als von der KMK prognostiziert. In den folgenden Jahren weitete sich die Differenz drastisch aus. Dass die Politik viel zu spät auf diesen kontinuierlichen Geburtenanstieg reagiert habe, sei Meidinger nach ein Riesenfehler gewesen. Die externen Faktoren wie die Flüchtlingsbewegung Mitte der 2010er-Jahre erhöhte die Anzahl der Kinder nochmals deutlich, wodurch letztendlich der prognostizierte Lehrer*innenüberschuss in einem Lehrer*innenmangel endete. Wie unterschiedlich sich diese zwei Situationen auf den Arbeitsalltag von Lehrer*innen auswirken, weiß Hummel zu gut. Als sie damals in Backnang an der Grundschule anfing, gab es für jede Klasse zwei Förderstunden. „Es war völlig egal, was ich in diesen zwei Stunden mache, ob ich mit einem Kind arbeite, mit drei, mit fünf“, erinnert sich Hummel. So konnte sie sich damals gezielt den schwächeren, aber auch den guten Kindern widmen. Diesen Zustand vermisse sie sehr. Denn heutzutage habe sie nur eine einzige Förderstunde für die ganze Schule. Dadurch sei eine individuelle Förderung der Schüler*innen nahezu unmöglich
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Was sich ändern sollte
Diese Entscheidungsfreiheit von damals wünscht sich Hummel zurück. Ihre Vorstellung wäre eine vorgegebene Stundenanzahl, welche sie dann selbst verteilen darf. So könnte sie entscheiden, wie viele Stunden ein Kind braucht, um zu erlernen, was es lernen soll. „Meine fitten [Kinder], denen reichen zwei Drittel der Zeit aus und ein Drittel könnte ich dann wirklich für die Kinder nehmen, die mehr Zeit brauchen.“ Immer wieder komme ihr allerdings das Gefühl, dass die Politik den Lehrer*innen genau dies nicht zutraut. Man wolle zwar, dass die Lehrer*innen möglichst viel diagnostizieren und einschätzen, allerdings gebe man ihnen nicht die Möglichkeit, daran dann zu arbeiten. „Das ist extrem unbefriedigend“, meint Hummel, ließe sich aber ändern, indem man beispielsweise die Kontingentstundentafel senkt. Die Kontingentstundentafel legt für jede Schulart fest, wie viele Jahreswochenstunden insgesamt in den Schuljahren bis zum Abschluss des Bildungsgangs zu erteilen sind. Für die Grundschulstufen eins bis vier sind beispielsweise 28 Wochenstunden für das Fach Deutsch vorgesehen. Wie diese Jahreswochenstunden jedoch auf die einzelnen Klassenstufen verteilt werden, entscheiden die einzelnen Schulen. Dem Kultusministerium nach erhalten die Lehrer*innen so pädagogischen Freiraum und die selbstständige Gestaltung der Schwerpunkte und Schulkonzepte. Allerdings reicht das Personal laut Hummel bereits für diese Gesamtstundenzahl nicht. „Wie sollen wir denn dann auch noch Sprachförderkinder dazunehmen? Wie sollen wir dann noch die Ganztagsschule dazunehmen und andere Projekte?” Es seien zwar gute Projekte, jedoch sollten diese so lange auf Eis gelegt werden, bis auch genug Personal dafür da sei.
Noch keine Besserung in Sicht
Dies sei momentan noch nicht der Fall. Hummel blickt auf das nächste Schuljahr zwar optimistisch. Sie habe bereits eine Klassenverteilung, mit der alle zufrieden sind und auch ihre langzeitkranke Kollegin komme nun stückchenweise wieder zurück. Daher könnte sie ab Weihnachten einen kleinen Überhang haben, jedoch dürfe dann keiner schwanger werden, sich die Schulter brechen oder Sonstiges. Denn in den meisten Fällen werde dann keine Vertretung geschickt, weil es schlichtweg keine gibt. Des Weiteren fehlen an anderen Schulen so viele Lehrer*innen, dass jederzeit eine Kraft abgezogen werden kann, um an einer anderen Grundschule eingesetzt zu werden. Auch wenn das für ihre Schule bedeutet, dass immer ein Restrisiko einer erneuten Unterbesetzung bleibt, hält Hummel es dennoch für richtig: „Die Eltern oder die Kinder in diesem anderen Schulbezirk können ja nichts dafür, dass da mehr Lehrer fehlen.“
Auch wenn uns das generelle Problem des Lehrerkräftemangels aller Voraussicht nach noch die kommenden 20 Jahre begleiten wird, soll sich die Lage an Grundschulen laut KMK ab 2025 wieder entspannen und anschließend sogar in einen Lehrer*innenüberhang münden. Hummel jedoch glaubt nicht daran, dass ihr Wunsch noch erfüllt wird. „Nicht, solange ich noch Lehrerin bin“, meint sie lachend. Trotz allem hat sie es nie bereut, Lehrerin geworden zu sein. Auch nach 38 Jahren macht ihr der Beruf noch immer Spaß. Besonders wenn man es geschafft habe, die Kinder zu etwas zu motivieren, wie beispielsweise 100 Textaufgaben oder einen 30-minütigen Dauerlauf. Das sei ein großartiges Gefühl: „Unser Beruf bietet genügend Glücksgefühle.“